Im Jahr 2022 haben ausländische Firmen in Deutschland so wenige neue Projekte angestoßen wie seit 2013 nicht mehr. Europa schneidet zwar insgesamt nicht besonders gut ab. Doch selbst im Kontinentalvergleich halten sich ausländische Investoren hierzulande überdurchschnittlich zurück.
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Diese Ziffer dürfte die Debatte um die gefürchtete Deindustrialisierung Deutschlands weiter anheizen: Im Jahr 2022 ist die Zahl der ausländischen Direktinvestitionen hierzulande auf den niedrigsten Stand seit 2013 gefallen. Insgesamt haben Investoren aus dem Ausland in Europas größter Volkswirtschaft vergangenes Jahr nur mehr 832 Investitionsprojekte in Angriff genommen.
Im Vergleich zum Vorjahr fällt das Minus zwar relativ klein aus, doch war schon 2021 ein schwaches Jahr. Außerdem nimmt die Zahl der angekündigten Großinvestitionen in Deutschland nun schon seit Jahren kontinuierlich ab, noch 2017 war mit 1124 Projekten ein Hoch erreicht worden.
Europa insgesamt schnitt bei Direktinvestitionen nicht sonderlich gut ab. „Nach wie vor liegt das Niveau niedriger als im Vor-Pandemie-Jahr 2019 und deutlich unter dem Rekordjahr 2017“, heißt es in der Studie. Es verzeichnen jedoch keineswegs alle europäischen Länder einen Rückgang.
Der Auswertung von EY zufolge konnte Frankreich vergangenes Jahr 1259 neue Projekte vermelden, drei Prozent mehr als 2021. Unser Nachbarland vereinigte damit 21 Prozent aller Projekte in Europa auf sich. Auf Platz zwei folgt Großbritannien mit einem Anteil von 16 Prozent. Erst dann kommt erst Deutschland mit 14 Prozent.
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„Das Ergebnis dürfte auch vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine, den Auswirkungen auf Deutschland und den Sorgen vor einer Energiekrise zu interpretieren sein“, schreiben die Berater. Die Konjunktur hatte sich 2022 in der Bundesrepublik schwächer als anderswo entwickelt.
Ein Grund: Deutschland mit seinem relativ hohen Industrieanteil litt wie keine zweite große Volkswirtschaft unter den steigenden Preisen für Gas und Strom. Aus deutscher Sicht muss 2022 besonders deshalb als Rückschlag betrachtet werden, weil Ökonomen eigentlich mit einer ganz anderen Entwicklung gerechnet hatten.
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Als Folge von Corona und weltweit unterbrochener Lieferketten waren die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland 2021 um zehn Prozent eingebrochen. Allgemein war für 2022, nach dem Ende der Pandemie, eine kräftige Erholung erwartet worden. Dass die Erholung ausblieb, weckt Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland.
Deutschlands Schwächen werden immer gravierender
Dazu passt der scharfe Rückgang der Auftragseingänge der deutschen Industrie im Herbst. Nach Einschätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben sich die Schwächen des Standorts Deutschland seit 2013 verschärft. Deutschland ist aber auch zurückgefallen, weil andere Länder sich verbessert haben: „Fehlende Verbesserungen sind gleichzusetzen mit verschlechterten Chancen auf künftiges Wachstum“, so eine Einschätzung des Instituts.
Ein häufig beklagtes Problem, über das die Ampel-Regierung gerade diskutiert, sind die Energiepreise. „Die deutsche Industrie ächzt unter hohen Stromkosten“, heißt es in einer Einschätzung von IW-Chef Michael Hüther. Seinen Berechnungen zufolge zahlten Unternehmen in Deutschland im zweiten Halbjahr 2022 durchschnittlich rund 25 Cent für eine Kilowattstunde Strom.
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Das liegt über dem EU-Durchschnitt und ist etwa dreieinhalbmal so viel wie in den USA: „Im internationalen Wettbewerb droht die deutsche Industrie damit unter die Räder zu kommen“, warnt Hüther.
Während Europas größte Volkswirtschaft 2022 keine Fortschritte machte, profitierten einige Länder von der Regionalisierung der Lieferketten und relativ niedrigen Kosten. Die Experten verwenden den Begriff „Verlagerungsdynamik“.
Ökonomen sehen auch einen Hoffnungsschimmer
Den größten Sprung bei den Projekten machte Polen mit einem Plus von 30 Prozent, gefolgt von Portugal mit plus 24 Prozent und der Türkei mit plus 22 Prozent. Auch Irland legte deutlich zu. Es profitierte vermutlich von der Schwäche Großbritanniens. Das Vereinigte Königreich zeigte von den großen Volkswirtschaften 2022 die schlechteste Bilanz. Die Zahl der Projekte schrumpfte um sechs Prozent.
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Zumindest für den weiteren Jahresverlauf wollen die Ökonomen aber einen leisen Hoffnungsschimmer erkennen. „In diesem Jahr stellt sich die Situation deutlich anders dar: In der Gunst der Investoren kann der Standort Deutschland kräftig zulegen“, formulieren es die EY-Experten mit Blick auf eine Umfrage unter Investoren.
Überträgt sich die Stimmung in echte Projekte, wird Frankreich 2023 bei den Direktinvestitionen in etwa auf Vorjahresniveau bleiben, Großbritannien wird weiter zurückfallen, und die Bundesrepublik hat Chancen, wieder auf Position eins zu klettern.
Ob es wirklich so kommt, hängt aber von vielen Unwägbarkeiten ab, nicht zuletzt von den Energiepreisen. Erst einmal haben die Sorgen und die Deindustrialisierung Deutschlands neue Nahrung erhalten.