Der IWF warnt: Deutschland stehe vor schweren wirtschaftlichen Herausforderungen. Hohe Energiepreise und strukturelle Probleme bedrohten das Wachstum. Auch die Schuldenbremse müsse gelockert werden. Kommt es jetzt zur Stagnation?
Bundesfinanzminister Christian Lindner bekommt vom IWF auch Unterstützung für seine Politik REUTERS© Bereitgestellt von WELT
Deutschland sei gut durch die Energiekrise gekommen, heißt es beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Jetzt müssten jedoch schnell Reformen angepackt werden, solle es nicht künftig knirschen – und zwar nicht nur in Europas größter Volkswirtschaft selbst, sondern in der gesamten Währungsunion.
Mit Blick auf die Finanzen warnt der Fonds im Rahmen sogenannter Artikel-IV-Konsultationen davor, weiter auf immer neue Schattenhaushalte wie das „Sondervermögen Bundeswehr“ zu setzen: Stattdessen solle der Staat die Schuldenbremse etwas lockern.
In der Wahrnehmung der meisten Deutschen tritt der IWF meist nur dann auf den Plan, wenn eine Ökonomie richtig tief in der Tinte steckt und gerettet werden muss. Doch die Washingtoner Organisation gibt auch regelmäßig Einschätzungen dazu ab, in welche Richtung sich Volkswirtschaften entwickeln. In den diesjährigen Artikel-IV-Konsultationen hat sich der Währungsfonds der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik angenommen.
Ökonomisch sind die Aussichten ernüchternd. Dem IWF zufolge wird die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nicht wachsen. Von 2024 bis 2026 soll das Plus nur ein bis zwei Prozent betragen.
„Die Unsicherheit ist groß“
„Die Unsicherheit ist groß“, meinen die Experten, die in den vergangenen Wochen im Land unterwegs waren, um Informationen von Ministerien, Unternehmen, Gewerkschaften und der Bundesbank zu sammeln. Die Artikel-IV-Konsultationen sind eine Art ökonomischer Gesundheitscheck, der jährlich stattfindet.
Schuld an der drohenden Stagnation in diesem Jahr, so das IWF-Team, seien die hohen Energiepreise. Sie belasteten Deutschlands Firmen, lähmten die Wirtschaft. Doch selbst für die Zeit nach 2026, wenn Strom und Gas vielleicht wieder günstiger sind, bleiben die Aussichten trüb. Das Wachstum dürfte unter einem Prozent liegen. Denn Deutschland hat den Experten zufolge mehrere Probleme, die sich nicht einfach lösen lassen: eine alternde Bevölkerung, einen Mangel an Fachkräften, geringe Produktivitätsgewinne.
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Immerhin, die Inflation in Deutschland wird nach Einschätzung des Fonds sinken, wenn auch nicht auf die Werte, wie man sie vor Corona und Russlands Angriff auf die Ukraine kannte. Ende des Jahres erwartet die Organisation eine Rate von rund 4,5 Prozent.
Zum Vergleich: Vor wenigen Monaten waren es fast neun Prozent, im April noch 7,2 Prozent. Die Kerninflation – also die Teuerung ohne die schwankungsanfälligen Energie- und Lebensmittelpreise – dürfte hingegen später und langsamer fallen.
Ein besonderes Problem stellen dem IWF zufolge die diversen „Sondervermögen“ dar, die de facto nichts anderes sind als verschleierte Neuverschuldung. Deren Volumen beziffern die Ökonomen auf rund neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
„Der Währungsfonds bemängelt, dass die Regierung beträchtliche Schulden außerhalb des regulären Haushalts aufgenommen hat.“ Damit werde die Schuldenbremse des Grundgesetzes umgangen, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank.
Nach Ansicht des Währungsfonds ist es ökonomisch sinnvoller, diese Schattenhaushalte zu begrenzen und im Gegensatz das unter der Schuldengrenze höchstens erlaubte Haushaltsdefizit etwas anzuheben, „vielleicht um einen Prozentpunkt“ des Bruttoinlandsprodukts (BIP), so der Report.
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Die Ökonomen regen an, vorübergehend einen Energie-Soli bei reicheren Bürgern einzusammeln und damit ärmere Teile der Bevölkerung zu unterstützen. Eine Idee, die nicht ganz neu ist – und die Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner ablehnt. Doch Lindner erntet nicht nur Kritik für seine Politik.
„Der Finanzminister bekommt einerseits etwas Unterstützung durch den Aufruf, schnell wieder zu soliden Finanzen zurückzukehren, um so auch die Inflation zu bekämpfen”, sagt Carsten Brzeski, Chefökonom Euro-Zone der ING. Andererseits fordere der IWF, mehr zu investieren und auch die Schuldenbremse zu reformieren.
Allerdings solle Deutschland laut IWF damit warten bis die EU ihre geplante Reform des Stabilitätspakts abgeschlossen habe. Also jener Regeln, die festlegen, wie viel Geld die Mitgliedstaaten ausgeben dürfen und wie schnell sie ihre Schulden zurückzahlen müssen.
Bisher sieht die Vereinbarung vor, dass alle Länder ihre Defizite auf drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und die Verschuldung auf 60 Prozent begrenzen müssen. Viele Regierungen, so die Kommission, könnten diese Ziele nach milliardenschweren Corona-Hilfen und in einer Zeit hoher Energiepreise nicht mehr einhalten. Daher seien Änderungen nötig.
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Die Kommission plant, mit jedem Staat künftig einzeln über den besten Weg des Schuldenabbaus zu verhandeln. Brüssel will nicht länger allgemeingültige Regeln vorschreiben, sondern von Fall zu Fall entscheiden. Das bedeutet eine Aufweichung des Stabilitätspakts und würde der EU ganz neue politische Spielräume eröffnen. Eine Niederlage für Lindner, der vor diesem Szenario wochenlang gewarnt hatte.
Wenigstens in einem Punkt scheint der deutsche Finanzminister einen Triumph errungen zu haben. Staaten mit einem großen Minus sollen ihre Schuldenquote laut dem Vorschlag aus Brüssel um jährlich einen halben Prozentpunkt senken. Das ist weniger als Lindner gefordert hatte, aber immerhin eine verbindliche und konkrete Angabe.
Zudem plant die Kommission eine für alle Länder gültige Regel, nach der das Ausgabenwachstum nicht größer als das Wirtschaftswachstum unter normalen Bedingungen sein darf. Auch das eine Idee von Lindner.