Ko-Autor: Siegfried Russwurm ist Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).© dpa
Deutschland nimmt weltweit mit Ingenieurleistungen eine Spitzenposition ein. Wir müssen jedoch alles dafür unternehmen, dass das so bleibt. Der Wettbewerbsdruck ist hoch. Neue Konkurrenten dringen in Domänen vor, in denen deutsche Ingenieurskunst als führend gilt: China errichtet das größte Netz für Hochgeschwindigkeitszüge auf der ganzen Welt, stellt das zweitgrößte Flughafenterminal und weitere Großprojekte in Rekordzeit fertig. Gleichzeitig stehen wir vor einem grundsätzlichen Wandel durch neue Anforderungen in Bezug auf Digitalisierung, Energieversorgung, Nachhaltigkeit und Mobilität. Wir müssen neue Lösungen mit den Menschen und für die Menschen gestalten. Um damit Erfolg zu haben, brauchen wir eine neue Initiative für „Engineering Excellence“.
Denn die Führungsrolle Deutschlands steht auf dem Spiel. Die Kosten von Vorhaben wie Stuttgart 21 oder der zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München schießen immer weiter in die Höhe, und die Termine für ihre Fertigstellung rücken regelmäßig in die Zukunft. Das erschüttert das Vertrauen der Menschen und schadet dem guten internationalen Ruf Deutschlands als Land der Ingenieurinnen und Ingenieure.
Engineering Excellence heißt, die technischen Systeme von morgen im globalen Wettbewerb erfolgreich gestalten. Die Bandbreite solcher Systeme reicht von kleinen Geräten wie smarten Küchenhelfern über größere wie intelligente vollvernetzte Fahrzeuge bis hin zu ganz neuen Infrastrukturen, etwa für eine Wasserstoff- oder Kreislaufwirtschaft. Weil Innovation niemals stillsteht, müssen diese immer wieder ganz neu gedacht und entwickelt werden. Triebfedern sind hierbei die Digitalisierung und Technologien wie die Künstliche Intelligenz (KI) und der „Digitale Zwilling“. Sie sind die Basis für vernetzte autonome Systeme und ermöglichen es, Systeme zu erproben, bevor sie physisch entstehen und in den realen Betrieb gehen. In vielen Bereichen gibt es erhebliche Potentiale für deutsche Produkte und Dienstleistungen, für die nachhaltige Gestaltung neuer Systeme und für Markterfolg rund um den Globus. Voraussetzung ist, dass sich jedes System, von klein bis weitverzweigt, durch eine hohe Verlässlichkeit auszeichnet und durch seine erfolgreiche Implementierung auch die technologische Souveränität des Standorts Deutschland fördert.
Enge Kooperationen sind gefragt
Dies stellt unsere Entwicklerinnen und Entwickler vor neue Herausforderungen. Die Komplexität dieser neuen Systeme macht es unabdingbar, dass Personen aus verschiedensten Fachdisziplinen zusammenarbeiten – beispielsweise aus dem Maschinenbau, der Mechatronik, der Softwareentwicklung, dem Marketing und Vertrieb und dem Kundendienst. Sie müssen den gesamten Innovationsprozess von der Vorausschau der Entwicklung von Märkten, Technologien und Geschäftsumfeldern über die Entwicklung und den Markterfolg bis zur langfristigen und nachhaltigen Nutzung der Systeme im Blick haben. Dies erfordert von ihnen eine übergreifende Denk- und Handlungsweise. In diesem Prozess kommunizieren und kooperieren alle involvierten Fachleute und Unternehmenspartner miteinander, sodass das entstehende Produkt oder die Dienstleistung so früh wie möglich erprobt, genutzt und weiterentwickelt werden kann.
Die neue übergreifende Herangehensweise spiegelt sich auch in den Organisations- und Arbeitskulturen sowie (KI-basierten) IT-Werkzeugen. Diese umfassende neue Methodik, bei der jedes Rad ins nächste greift, wird als „Advanced Systems Engineering“ (ASE) bezeichnet. ASE ist eine Schlüsselkompetenz, die für Engineering Excellence steht und im internationalen Wettbewerb herausragt und erhebliche Wettbewerbsvorteile bietet: Mit ASE können wir hier in Deutschland die komplexen, innovativen und vernetzten Produkte, Systeme und Dienstleistungen der Zukunft professionell entwickeln und zum Markterfolg bringen. Deshalb müssen wir ASE jetzt stärken und breit bekannt machen. Das trägt maßgeblich zur Sicherung der Zukunft des Technologie- und Innovationsstandorts Deutschland bei.
Um ASE im Innovationssystem zu verankern, müssen Stakeholder aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft an einem Strang ziehen. Deshalb wurde im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „AdWiSE“ (Fördermaßnahme „Beherrschung der Komplexität soziotechnischer Systeme – ein Beitrag zum Advanced Systems Engineering für die Wertschöpfung von morgen“) und unter Beteiligung einer Vielzahl von Expertinnen und Experten die ASE-Strategie zur Gestaltung der Zukunft des Engineerings in Deutschland formuliert. Die Strategie schlägt ein Leitbild vor, wie die Situation für das Engineering im Jahr 2035 aussehen soll. Sie zeigt die Ziele, Kernwerte und Stakeholder-Nutzen der Initiative und erläutert, was grundsätzlich geschehen muss, um das Leitbild erfolgreich zu verwirklichen. Dabei kommen den Adressaten der Strategie, insbesondere Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, spezifische Rollen zu.
Die Politik muss die Rahmenbedingungen für ASE schaffen, indem sie gesellschaftliche Akzeptanz für neue Technologien und die Überwindung des Fachkräftemangels fördert. Programme sollten zum einen die „Generation 50+“ mobilisieren, zum anderen sollten sie junge Menschen noch viel stärker für Technik und Systemgestaltung begeistern. Um ihren „Innovationsspirit“ zu wecken, empfehlen wir unter anderem freiwillige Praktika in Industrieunternehmen und Forschungsinstituten. Dabei gewinnen sie Einblicke in unterschiedlichste spannende Engineering-Berufsbilder, die ihren Weg in die Ausbildung und den Beruf prägen. Die wichtigste grundlegende Aufgabe der Politik liegt darin, digitale und technologische Souveränität in den Blick zu nehmen, denn diese hat die größte Hebelwirkung auf Engineering Excellence „made in Germany“. Wir benötigen auf nationaler und europäischer Ebene die Fähigkeit, im digitalen Raum selbstbestimmt zu handeln. Die europäische Datenstrategie, die Initiative Gaia-X und Plattformen wie Catena-X weisen den Weg in die richtige Richtung.
Neue Methoden gefordert, nur müssen diese erst gefunden werden
Die Wirtschaft wiederum ist der Treiber von Innovationen auf Basis von ASE. Die Entwicklung neuer Softwarewerkzeuge spielt für sie eine entscheidende Rolle: Unternehmen können nur so rasch und gut neue, herausragende Technologien entwickeln, wie es die Werkzeuge zulassen. Deshalb müssen die ASE-Werkzeuge zwingend interoperabel und digital durchgängig sein – auch hier gilt es, die Souveränität der Anwender auf europäischer Ebene zu sichern. Hand in Hand mit der Anwendung dieser Tools geht ein kompetenter Umgang mit Daten einher, deren Menge und Bedeutung im Engineering immer größer wird. Es gibt einen hohen Bedarf an neuen datenbasierten Methoden. Bislang gibt es diese nur in Ansätzen in den Ingenieurwissenschaften. Daher müssen sie von Grund auf neu erarbeitet werden.
Die Wissenschaft ist also gefordert, insbesondere die notwendigen Methoden mit Fokus auf nachhaltige und verlässliche Systeme zu erforschen, zu entwickeln und diese in das Innovationsgeschehen einzubringen. Damit dies schneller als bisher gelingt, muss der Staat die Zusammenarbeit und Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft effektiver fördern. Dies kann mit dem Fokus auf eine gemeinsame Innovationsvision gelingen und der Einrichtung von Transfer als dritter Säule – neben Lehre und Forschung – im Hochschulsystem.
Die ASE-Strategie kann dem Innovations- und Produktionsstandort Deutschland einen entscheidenden Schub in Richtung erfolgreiche Zukunft geben. Sie kann eine neue Dynamik entfachen, um die großen transformativen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Die Freude an der Entwicklung von nutzenstiftenden Systemen sowie der Mut und die Kompetenz, die Grenzen des gewohnten Denkens zu überwinden, müssen von der Schulzeit bis ins fortgeschrittene Berufsalter wieder stärker im Vordergrund stehen. Junge Menschen sollen in der Entwicklung neuer Technologien die Chance sehen, ihre Zukunft nachhaltig zum Besseren zu gestalten. Durch ASE können am Standort Deutschland neue, attraktive Arbeitsplätze entstehen. Gerade aufgrund der aktuellen ökonomischen und ökologischen Krisen muss es uns gelingen, neue Lösungswege zu gehen und gute Zukunftsperspektiven zu sichern. Und ASE ist genau so ein Lösungsweg.
Professor Dr.-Ing. Siegfried Russwurm ist Präsidiumsmitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) und Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).
Professor Dr.-Ing. Roman Dumitrescu ist Acatech-Mitglied und Direktor Produktentstehung am Fraunhofer IEM.