Russlands Überlegenheit bei der Artilleriebewaffnung reicht Militärexperten zufolge nicht für die Einnahme des Verwaltungszentrums Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine aus. „Russlands konzentrierte Artilleriekapazität gepaart mit wohl geschwächten Infanterieeinheiten bleibt unzureichend, um russische Fortschritte in Sjewjerodonezk zu erzielen“, heißt es in der jüngsten Analyse des Institute for the Study of the War (ISW). Russische Truppen kämpften zwar weiter um die Kontrolle der Stadt, hätten aber wenig Fortschritte am Sonntag gemacht.
Russland dürfte den Experten zufolge weiter versuchen, die ehemalige Großstadt einzukesseln und die dort verbliebenen ukrainischen Kräfte, die sich weitgehend im Chemiewerk Azot verschanzt haben, vom Nachschub abzuriegeln. Allerdings seien derzeit wenig Fortschritte bei diesem Vorhaben zu sehen. Zudem bereite Moskau eine Offensive auf Slowjansk vor. Der Raum Slowjansk-Kramatorsk gilt als Zentrum der ukrainischen Verteidigungskräfte im Donbass-Gebiet.
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Die ukrainischen Behörden räumten am Montag den Verlust der Ortschaft Metjolkine, südöstlich von Sjewjerodonezk ein. „Die Kontrolle über Metjolkine nahe Sjewjerodonezk ist verloren“, teilte der Militärgouverneur des ostukrainischen Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, auf seinem Telegram-Kanal mit.
Auch die Schwesterstadt von Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, am Westufer des Flusses Siwerskyj Donez sei unter Beschuss geraten. Die Evakuierungsmaßnahmen in der Stadt für Zivilisten liefen. Harte Kämpfe gibt es laut Hajdaj zudem um die Vororte Toschkiwka und Ustyniwka, „weil die Orks dort einen Durchbruch erzielen wollen und zu diesem Zweck dort große Mengen an Militärtechnik konzentriert haben“, schrieb er.
Ukrainische Offizielle verwenden oft den abwertenden Begriff „Orks“ aus der Trilogie „Herr der Ringe“ für die russischen Truppen.
Ein Verletzter bei erneutem Beschuss russischer Grenzregion
In der westrussischen Region Brjansk an der Grenze zur Ukraine wurde unterdessen ein Mann nach offiziellen Angaben durch Artilleriebeschuss verletzt. „Heute Morgen wurde die Ortschaft Susemka durch die ukrainischen Streitkräfte beschossen“, teilte der Gouverneur der Region Brjansk, Alexander Bogomas, in seinem Telegram-Kanal mit. Eine Person sei dabei „zu Schaden gekommen“, mehrere „Objekte“ beschädigt worden.
Bei dem Verletzten soll es sich um einen Mitarbeiter des örtlichen Energieversorgers handeln. Er erhielt demnach leichte Hautverletzungen durch Splitter. Beschädigt wurden ein Einfamilien- und zwei Mehrfamilienhäuser. Darüber hinaus wurde die Stromversorgung der Ortschaft teilweise lahmgelegt.
Russland, das im Februar den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, beklagt seit Wochen den Beschuss eigener grenznaher Regionen. In dem Zusammenhang ist die Formulierung von Bogomas pikant. „Der Beschuss erfolgte als Vergeltungsschlag“, die Feuerquelle sei aber schnell neutralisiert worden, schrieb der Gouverneur. Daraus folgt, dass zuvor die Ukraine von russischem Territorium aus beschossen wurde.
Selenskyj warnt vor noch heftigeren russischen Angriffen in der Ukraine
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt derweil vor noch heftigeren russischen Angriffen in der Ukraine. „Natürlich erwarten wir, dass Russland seine feindliche Aktivität in dieser Woche verstärkt“, sagte Selenskyj am Sonntagabend in seiner abendlichen Videobotschaft. Er ergänzte: „Wir bereiten uns vor. Wir sind bereit.“
Der ukrainische Präsident bekräftigte zudem die Bedeutung der anstehenden Entscheidung der EU-Mitgliedstaaten über einen möglichen Kandidatenstatus seines Landes. Wenige Entscheidungen seien je „so schicksalhaft für die Ukraine“ gewesen, sagte Selenskyj. „Nur eine positive Entscheidung ist im Interesse ganz Europas“, ergänzte er.