Die Bedeutung der ukrainischen Gegenoffensive bei Charkiw liegt keineswegs darin, dass sie das Blatt des Krieges wenden und die Ukraine definitiv direkt zum Sieg führen wird, wie einige Hitzköpfe schreiben. Das wissen wir nicht sicher und können es auch nicht wissen, da der Kriegsverlauf unvorhersehbar ist.
Nach Charkiw: Putin ist zwischen Skylla und Charybdis gefangen. Das sind seine Optionen© Bereitgestellt von Berliner Zeitung
Der Erfolg dieser Gegenoffensive macht jedoch die These von der Unausweichlichkeit eines langfristigen (bis zu mehreren Jahren) Stellungskrieges (im Geiste des Ersten Weltkriegs) nicht mehr so wahrscheinlich, wie viele unabhängige Analysten bisher gemutmaßt haben.
Diese für viele eher unerwartete Gegenoffensive der ukrainischen Armee stellt die Fähigkeit Russlands infrage, mit „geringen Kräften“, also ohne generelle Mobilmachung, unendlich lange einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, und zwar gegen die Ukraine, die der Westen mit Waffen und Geld unterstützt. Es scheint, dass Russland derzeit nicht über diese Fähigkeit verfügt, und zwar vor allem wegen des unbefriedigenden Zustands seiner Bodentruppen, die für regionale Konflikte in einem nicht-nuklearen Krieg entscheidend sind. Diese Unfähigkeit lässt uns erneut über den abenteuerlichen Charakter der Kreml-Politik und alle möglichen Entwicklungen in diesem Krieg nachdenken.
Die ganze Episode ist so zu einem Lackmustest geworden, der eine Erschöpfung des Offensivpotenzials der russischen Bodentruppen zur Folge hat. Die Ansätze der Kriegsführung in Form einer „militärischen Spezialoperation“ bleiben dem Kreml jedoch erhalten. Diese Kriegsepisode zeigt, dass das Offensivpotenzial der ukrainischen Bodentruppen zunehmen wird, wenn die USA und die EU weiterhin Waffen an die Ukraine liefern. Diese beiden gegensätzlichen Trends machen einen langen, mehrjährigen Krieg (bis zu zehn Jahren, wie zwischen dem Iran und dem Irak) für den Kreml inakzeptabel und zwingen ihn dazu, nach schnelleren Lösungen zu suchen.
Allerdings bleibt die Möglichkeit irgendeines Friedens mit der Ukraine im Moment meines Erachtens völlig illusorisch, da die Ukraine durch die Unterstützung des Westens immer wieder neuen Mut fasst und auf keinen Frieden ohne die Rückkehr aller Territorien, einschließlich der Krim, eingehen wird. Und selbst das kann nicht mehr als Maximum der ukrainischen Forderungen angesehen werden. Es ist davon auszugehen, dass die Ukraine auch nach Reparationen und weitgehenden Sicherheitsgarantien fragen wird. All das ist für den Kreml absolut inakzeptabel, da es zum Auslöser der russischen Revolution werden könnte. Nur eine Änderung der Position der USA und der EU und ihre Verweigerung ihrer militärischen Unterstützung kann die Position der Ukraine an der Stelle ändern. Auf diese Änderung der westlichen Position setzt Moskau nun und greift zu einer Energieblockade, also mit dem Stopp der Gaslieferungen über Nord Stream 1 an Europa.
Die chronische Insuffizienz der russischen Bodentruppen war eigentlich schon lange vor der Gegenoffensive bei Charkiw ein offensichtliches Problem. Die Russen haben einen Nuklearfetischismus kultiviert, besonders die Kreml-Elite und persönlich ihr Führer Wladimir Putin, um potenzielle Gegner mit der Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen einzuschüchtern. Dabei war die russische Armee auf langfristige regionale und, was wichtig ist, moderne militärische Konflikte nicht vorbereitet gewesen. Daher hat der Kreml in der gegenwärtigen Situation nur zwei strategische Optionen: Entweder Massenvernichtungswaffen einsetzen und über den Ausgang des Krieges auf Kosten des Massensterbens feindlicher Soldaten entscheiden oder eine Mobilisierung durchführen und über den Ausgang des Krieges auf Kosten des Massensterbens eigener Soldaten entscheiden.
Gefangen in einer strategischen Sackgasse zwischen Skylla, also der Mobilisierung, und Charybdis, also einem nuklearen Szenario, will der Kreml nicht schnell entscheiden. Beide Lösungen sind für ihn nicht attraktiv, da sie zwar keine offensichtlichen, aber durchaus reale Bedrohungen für die Existenz des Regimes darstellen. Daher wird der Kreml in seiner üblichen Weise höchstwahrscheinlich versuchen, palliative taktische Maßnahmen zu ergreifen und die Situation mit den Ressourcen, die er schon hat, in eine für ihn günstige Richtung zu lenken.
Von solchen verfügbaren Ressourcen sind nicht viele übrig geblieben. Erstens, es ist die anhaltende Überlegenheit der russischen Armee bei der Gesamtfeuerkraft, die es ermöglicht, nach der Umgruppierung der Truppen einen Gegenangriff an allen Abschnitten der Front zu starten. Zweitens, es ist die Überlegenheit bei Langstreckenflugkörpern und Luftstreitkräften, die es der russischen Armee ermöglicht, das gesamte Territorium der Ukraine unter Beschuss zu halten und die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Meine Erwartung ist, dass beides in naher Zukunft umgesetzt wird, wobei der zweite Bestandteil, also der Terror gegen die Zivilbevölkerung, bevorzugt werden wird. Eine unbestrafte Zerstörung der zivilen Infrastruktur ist immer viel einfacher zu organisieren, als die Verteidigung der ukrainischen Armee in der Tiefe zu durchbrechen.
Es mag sein, dass wir kurz vor einer völlig neuen Kriegsphase mit einer Vervielfachung der Anzahl der zivilen Todesopfer stehen. Das wird seine Folgen haben. Das Bild zerstörter und frierender ukrainischer Städte wird den Westen kaum auf die Idee bringen, bestehende militärische Hilfeleistungen (trotz eigener Energiekrise) aufzugeben. Im Gegenteil, das macht die Aufrüstung der Ukraine mit qualitativ anderen Waffensystemen, einschließlich modernster Luftverteidigungssysteme und Offensivwaffen mit großer Reichweite bis zu 300 und mehr Kilometern, unumgänglich.
Ich glaube, dass der Krieg bereits einen Punkt erreicht hat, wo das Ausmaß des gegenseitigen Hasses jede Art von Gentleman's Agreement zwischen der Ukraine und Russland selbst unter Beteiligung von Dritten fast unmöglich macht. In diesem Zusammenhang scheint die angeblich zwischen der Ukraine und den Vereinigten Staaten bestehende Vereinbarung, dass die ukrainische Armee die gelieferten Waffen nicht für Angriffe auf das russische Territorium einsetzen wird, schwer durchsetzbar zu sein. Und umgekehrt kann ich davon ausgehen, dass in der Ukraine ein neuer öffentlicher Konsens über die Zulässigkeit des Krieges auf dem Territorium des Feindes, also Russlands, entsteht. Es wäre merkwürdig, etwas anderes zu erwarten nach allem, was in diesem Krieg bereits passiert ist, und erst recht nach den massiven Angriffen auf die zivile Infrastruktur in den letzten Tagen.
In diesem Zusammenhang macht der Artikel des Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Ukraine Valery Zaluzhny auf sich aufmerksam. Zaluzhny schreibt, dass selbst die vollständige Rückgabe aller besetzten Gebiete mit der Verlegung der russischen Schwarzmeerflotte von der Krim nach Noworossijsk in der russischen Region Krasnodar das Problem einer militärischen Bedrohung durch Russland nicht beseitige. Man kann daraus schließen, dass die Ukraine den Krieg bis zur vollständigen Beseitigung einer solchen Bedrohung auf russischem Territorium fortsetzen wird. Angriffe auf russisches Territorium werden eigentlich seit langem verübt, daher ist mehr von deren Ausmaß und der Möglichkeit des physischen Erscheinens ukrainischer Truppen auf dem russischen Territorium die Rede, beispielsweise während einer Truppenlandung.
Eine solche Wende würde sowohl die Mobilisierung innerhalb Russlands als auch den Einsatz von Atomwaffen praktisch unvermeidlich machen. Das heißt, nach einem Zeit-Zyklus wird der Kreml immer noch vor der gleichen Wahl stehen, die er in diesem Herbst zu vermeiden versucht. Ich gehe daher davon aus, dass wir uns noch ganz am Anfang der Eskalation dieses militärischen Konflikts befinden und neue große Erschütterungen uns spätestens im Frühjahr erwarten. Sie können nur vermieden werden, indem die oben beschriebene Abfolge der Ereignisse irgendwann unterbrochen wird, was äußerst schwierig ist und höchstwahrscheinlich einen Regimewechsel entweder in Moskau oder in Kiew erfordern wird.
Aus der heutigen Perspektive erscheinen drei Szenarien der Kriegsentwicklung gleich wahrscheinlich. Im ersten Szenario entwickeln sich alle Ereignisse spontan, keine Seite gibt nach, und Europa wird innerhalb eines Jahres oder etwas mehr mit schlecht kalkulierbaren Folgen in den ersten Atomkonflikt seiner Geschichte hineingezogen.
Im zweiten Szenario platzt Europa, das einen akuten Energieschock erlebt, der Kragen, es übt Druck auf die Vereinigten Staaten aus und zwingt sie, die Waffenlieferungen an die Ukraine drastisch zu reduzieren, was zur Notwendigkeit einer vollständigen oder teilweisen Kapitulation der Ukraine führt, gefolgt von einem Regimewechsel in Kiew. Europa und Russland balancieren dabei am Rande eines Atomkriegs, zumindest bis Putin geht.
Im dritten Szenario liegen schon bei den russischen Eliten die Nerven blank, und sie entscheiden, dass es besser ist, Putin zu beseitigen, statt auf den „roten Knopf“ zu drücken, was ebenfalls zu einem Regimewechsel führen wird.