Forum

Forum-Breadcrumbs - Du bist hier:ForumPolitik: EU - newsNews zur Bundesregierung

News zur Bundesregierung

Zitat

Der AfD-Höhenflug zeigt, wohin der Heizungs-Murks führt

Der Entwurf des Heizungsgesetzes ist schlecht gemacht, Wirtschaftsminister Habecks Wärmepumpen-Plan verunsichert die Menschen. Es profitieren jene, die ausschließlich vom Dagegensein leben. Am Ende schadet das auch dem grünen Kernziel.

Das Hickhack um das Gebäudeenergiegesetz schürt Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Ampel, schreibt WELT-Redakteur Nikolaus Doll Annegret Hilse/REUTERS; Claudius Pflug

Das Hickhack um das Gebäudeenergiegesetz schürt Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Ampel, schreibt WELT-Redakteur Nikolaus Doll Annegret Hilse/REUTERS; Claudius Pflug© Bereitgestellt von WELT

Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) berät heute mit Vertretern der Regierungskoalition über das geplante Heizungsgesetz – als Beobachter des politischen Betriebs schwankt man da zwischen Sorge, Erleichterung und ultimativem Verdruss.

Werden die Ampel-Koalitionäre erneut endlos zusammensitzen und wie zuletzt beim Koalitionsausschuss einen 30-Stunden-Krimi aufführen, an dessen Ende halbgare Kompromisse stehen? Die dann wiederum Teile des Regierungsbündnisses postwendend infrage stellen?

Zugleich ist es gut, dass dieses Gesetz, das Habeck und die Grünen zur Mutter aller Wärmepumpen machen wollen, nun intensiv beraten und hoffentlich nachgebessert wird.

Letztlich dürften alle Änderungsvorschläge am Kern der Kritik aber nichts ändern: Dieses Gesetzgebungsverfahren ist Murks, der Entwurf handwerklich schlecht gemacht. Kein Regierungsentwurf sollte so unfertig und in einer Koalition derart unabgestimmt dem Bundestag zugeleitet werden. Das Hickhack um das Gebäudeenergiegesetz verunsichert die Menschen und schürt Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Ampel.

Klimaschutz ist zweifellos eine der ganz großen Herausforderungen, und beim Heizen anzusetzen, mit dem hohen Anteil am CO₂-Ausstoß, ist richtig. Aber die Bürger müssen bei Maßnahmen gegen die Erderwärmung das Gefühl haben, dass da nicht nur abstrakt „das Klima“ geschützt werden soll, sondern in erster Linie die Bewohner dieses Planeten – und dass der Aufwand für sie, dazu beizutragen, leistbar ist. Die Menschen dürfen nicht den Eindruck bekommen, jetzt sofort und allein für die Fehler der zurückliegenden, fossilen Generationen und für eine gute Zukunft unserer Kinder und Enkel geradestehen und zahlen zu müssen. Wenn sich dieses Gefühl weiter ausbreitet, egal ob richtig oder falsch, verliert Klimaschutz an Akzeptanz.

Gesetze, die wie Habecks Wärmepumpen-Wumms so tief ins Leben der Bürger einschneiden, müssen besser vorbereitet, abgestimmt und kommunikativ begleitet werden. Am Ende gehen Menschen zur Wahl, nicht das Klima.

Umfragen zeigen, wohin das führt

Das ist jetzt platt, zu kurz gedacht? Vielleicht hilft ein Blick auf die jüngsten Wahlumfragen, der zeigt, wohin eine Politik führt, von der eine offensichtlich wachsende Zahl an Menschen im Land glaubt, sie würde nicht mitgenommen. Mitte März meldete erstmals seit mehr als vier Jahren ein Meinungsforschungsinstitut eine höhere Zustimmung für die AfD als für die Grünen. Insa kam bei Wählerbefragungen auf 16 Prozent für die AfD und auf 15 Prozent für die Grünen. Seither bestätigen andere Institute den besorgniserregenden Trend.

Da vergeht keine Woche, in der Grüne und SPD nicht vor Rechtsextremismus warnen und den Antifaschismus als eigene DNA herausstellen. Und dann schieben ausgerechnet die Grünen Gesetzesvorhaben an, die massive Kritik verursachen und Protestparteien wie die AfD mästen, die inhaltsleer, zerrüttet und zerstritten nur von einem leben: dem Dagegensein.

Wenn die Grünen mit der Losung „Klimaschutz über alles“ weiterregieren und die SPD dabei zuschaut, wenn sie die derzeit brennenden Themen für Millionen im Land wie Inflationsbekämpfung, die Sicherung langfristig bezahlbarer Energie oder die Steuerung der Migration nicht mit ähnlichem Nachdruck vorantreiben, werden der Protestblock und mit ihm Parteien wie die AfD weiterwachsen – und mit wachsender Kraft alles blockieren, was für den Klimaschutz so dringend nötig wäre.

Zitat

„Schwerwiegende“ Mängel: Plagiatsjäger werden bei Habeck-Vertrautem Graichen wohl erneut fündig

Nach „Trauzeugenaffäre“

„Schwerwiegende“ Mängel: Plagiatsjäger werden bei Habeck-Vertrautem Graichen wohl erneut fündig

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne, r) gemeinsam mit seinem früheren Staatssekretär Patrick Graichen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne, r) gemeinsam mit seinem früheren Staatssekretär Patrick Graichen.© Kay Nietfeld/dpa

Patrick Graichen, der frühere Staatssekretär von Robert Habeck, soll auch bei seiner Masterarbeit plagiiert haben. Der Druck auf den 51-Jährigen nimmt zu.

Berlin – In der Causa Graichen scheint auch gut anderthalb Wochen nach dessen Versetzung in den Ruhestand keine Ruhe einzukehren. Der frühere Staatssekretär im Wirtschaftsministerium muss sich aktuell gegen Plagiatsvorwürfe zur Wehr setzen. Vor knapp anderthalb Wochen war die Doktorarbeit des Vertrauten von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in den Fokus von Plagiatsjägern gerückt. Am Dienstag (30. Mai) folgten nun weitere Vorwürfe. Auch bei seiner Masterarbeit an der renommierten Cambridge University soll Graichen plagiiert haben.

Graichen weiter unter Druck: Ungereimtheiten auch in Masterarbeit – „schwerwiegend plagiiert“

Diesen Vorwurf äußerte der österreichische Plagiatsgutachter Stefan Weber. Graichen soll bereits während des Studiums ins England „schwerwiegend plagiiert“ haben, so der Vorwurf des Plagiatsjägers. Weber schrieb auf seinem Blog von zwei Arbeiten Graichens, in denen er Plagiate entdeckt haben will. Dabei handelt es sich um die Arbeiten unter den Titeln „Acid rain and economics“ und „Taking nature into account“, die Graichen im Jahr 1996 verfasst hatte. Der an der Camebridge University erworbene Abschluss stellte die Grundlage für Graichens Promotion im Jahr 2002 dar.

Der Plagiatsexperte Jochen Zenthöfer hatte bereits vor einer Woche Plagiatsvorwürfe gegen Graichen aufgrund dessen Doktorarbeit an der Uni Heidelberg erhoben. „Es handelt sich um 30 Plagiatsfragmente, die teilweise aus mehreren Sätzen bestehen“, sagte Zenthöfer der Bild am Sonntag. Graichen wies die Vorwürfe zurück, kündigte aber dennoch an, seine Doktorarbeit prüfen zu lassen.

„Trauzeugenaffäre“ im Wirtschaftsministerium – Habeck-Ministerium in der Kritik

Der frühere Staatssekretär war Mitte Mai von Wirtschaftsminister Robert Habeck in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Graichen hatte Ende April eingeräumt, dass er seinem Trauzeugen zu einem Chefposten bei der staatseigenen Deutschen Energie-Agentur verholfen hatte. Im Zuge weiterer Untersuchungen war zudem ein von Graichen gebilligtes Klimaschutz-Projekt ans Licht gekommen. Beantragt hatte es der Berliner Landesverband der Umweltorganisation BUND - in dessen Vorstand die Schwester Graichens sitzt. Für Kritik hatte auch die enge Vernetzung Graichens mit dem Öko-Institut und der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende gesorgt.

Zitat

Robert Habeck braucht seine eigene Wende

Berlin . Wirtschaftsminister Robert Habeck geht nach mehreren Fehlern durch die tiefste Krise seiner Politiker-Laufbahn. Wie der Grüne in diesen Wochen mit dem Heizungsgesetz umgeht, kann entscheidend sein – für seine Zukunft, für die der Grünen und sogar die der Ampel-Koalition.

 Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Donnerstag bei einem Besuch in Brandenburg.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Donnerstag bei einem Besuch in Brandenburg.

Der CDU-Wirtschaftsrat lässt Robert Habeck an diesem Dienstagmorgen wie einen Gladiator einziehen zwischen den voll besetzten Stuhlreihen im Berliner Marriott Hotel. Der Bundeswirtschaftsminister springt, begleitet von höflich-widerwilligem Beifall, auf die Bühne, nimmt Platz und die Chefin des Wirtschaftsrats, Astrid Hamker, beginnt ihre Rede. Sie gerät zu einer einzigen Abrechnung mit Habeck. Vor einem Jahr habe man den Vize-Kanzler „offen und wohlwollend“ begrüßt, „heute treffen Sie auf Ernüchterung aufgrund einer Politik, die vor allem auf Verbote und mehr Bürokratie setzt“, wettert Hamker. „Wir sind in großer Sorge um den Standort.“ Habeck scheint neben Hamker tiefer in den Stuhl zu sinken, seine eben noch freundliche Miene hat sich verhärtet.

Nach eineinhalb Jahren im Amt ist der bisherige Star der Grünen in eine tiefe Krise geraten, dieser Termin auf dem Wirtschaftstag der CDU-Mittelständler vergangene Woche ist symptomatisch dafür. Manche schreiben schon vom „Absturz des Ikarus“, andere spekulieren über das vorzeitige Ende dieser Politiker-Karriere. Habeck hat ein beispielloses Arbeitstempo hingelegt, kaum eine Woche verging ohne einen neuen Gesetzentwurf aus seinem Haus. Zudem ist er, wie auch am gestrigen Donnerstag in Brandenburg, ständig unterwegs. Bei diesem Höllentempo passieren Fehler, die ihm zunächst verziehen wurden. Doch in diesem Führjahr markierten der Vorwurf der Vetternwirtschaft und das miserabel vorbereitete Heizungsgesetz die Stimmungswende. Seine Beliebtheitswerte stürzten ab, die Grünen verloren Stimmen bei Wahlen in Berlin und Bremen.

Staatssekretär Patrick Graichen, für Habeck bisher der zentrale Mann für die Energiewende, musste gehen, weil er seine privaten Verbindungen aus den Amtsgeschäften nicht heraushalten konnte. Habeck hat Probleme auch wegen eines zweiten Staatssekretärs. Udo Philipp ist zuständig für die Förderung von Start-up-Firmen, aber selbst an einigen beteiligt. Habeck wurde deshalb vor Bundestagsausschüsse zitiert. Der unnötige Ärger bindet Kräfte, die ihm an anderer Stelle fehlen.

Zum Beispiel beim Heizungsgesetz, ein 177 Seiten langes Regelwerk, das die so genannte Wärmewende in Deutschlands Häusern einleiten soll. Statt die Heizungswende kommunikativ sorgfältig vorzubereiten, beklagte sich Habeck öffentlich darüber, dass Koalitionspartner den Gesetzentwurf vorzeitig an Medien durchgesteckt hätten.

Der Entwurf sieht vor, dass von 2024 an jede neu eingebaute Heizung klimafreundlich und ergo mit mindestens 65 Prozent erneuerbaren Energien betrieben werden muss. Wer ihm bös wollte, nutzte das für eine schlimme Kampagne – nach dem Motto, Habeck wolle den Deutschen die Heizungen herausreißen. Habeck hielt zu wenig dagegen, beharrte zu lange darauf, die Wärmewende wie geplant durchzuziehen. Erst spät ging er auf die Kritik der FDP ein. Nun muss er darum kämpfen, dass die Liberalen dem Gesetzentwurf vor der Sommerpause zustimmen. Stundenlang beantwortete Habeck in dieser Woche die 77 bohrenden Fragen der FDP. „Ob Habeck und die Grünen wieder aus dem Tief herauskommen, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob er beim Heizungsgesetz jetzt die Kurve bekommt und den Bedenken der Bürger hinreichend Rechnung trägt“, sagt Peter Matuschek vom Meinungsforschungsinstitut Forsa.

Wenn es nicht gut läuft, greift oftmals der Grandseigneur der Grünen, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, tadelnd ein. „Er hatte keinen guten Lauf und war zu schnell“, sagte der 75-Jährige jetzt im „Zeit“-Interview über Habeck. Politik sei eine pragmatische Veranstaltung, bei der man nicht mit dem Kopf durch die Wand könne. „Bei einem komplexen Gefüge wie den Heizungen mit Verboten vorzugehen, ist ein Ritt auf der Rasierklinge.“ Es sei „eine Frage von Weitsicht, auf Kritik einzugehen und dann Lösungen und Kompromisse zu erarbeiten“. Rumms.

Anders als sein Kontrahent im Kabinett, Finanzminister Christian Lindner, ist Habeck nicht Parteichef. Auch in der Grünen-Fraktion hat der Flensburger keine Hausmacht. Für Lindner und Kanzler Olaf Scholz (SPD) ist Habeck bei Ampel-Verabredungen weiterhin der zentrale Ansprechpartner, doch wie groß seine Durchsetzungskraft in der eigenen Partei ist, ist auch für sie nicht klar. Im Machtgefüge der Grünen gibt es fünf andere, die mitreden, zwei Parteichefs, zwei Fraktionschefinnen und Außenministerin Annalena Baerbock. Doch unter Druck werde Habeck am besten, sagt einer, der ihn lange kennt. Ihn abzuschreiben wäre zu vorschnell.

Zurück also ins Berliner Marriott Hotel zum CDU-Wirtschaftsrat. Nach der Klatsche der Vorrednerin Astrid Hamker richtet Habeck das Wort an die mehreren Hundert Unternehmer. „Ich möchte mich erneut outen als Fan der Sozialen Marktwirtschaft“, beginnt er. Der studierte Philosoph doziert über einen ihrer Erfinder, Alfred Müller-Armack, Wegbegleiter Ludwig Erhards. Dieser sei in den 1940-er Jahren aus der katholischen Soziallehre gekommen, habe gegen die „Verwirtschaftlichung des Lebens“ gekämpft, weil die Wirtschaft den Menschen dienen solle, nicht umgekehrt. Der gesetzliche Rahmen für das freie Spiel der Marktkräfte müsse dementsprechend immer wieder „neu justiert“ werden, genau das versuche er in Zeiten des Klimawandels.

Habeck, der Gladiator, verlässt die Bühne erhobenen Hauptes und unter tosendem Applaus. Die Unternehmer stehen jetzt hinter ihm.

Zitat

Diesen Warnschuss muss er hören
Bundeskanzler Olaf Scholz (Archivbild): Der Sozialdemokrat regt sich nicht dauernd auf und spricht selten Machtworte.
Bundeskanzler Olaf Scholz (Archivbild): Der Sozialdemokrat regt sich nicht dauernd auf und spricht selten Machtworte. (Quelle: IMAGO)

Die Ampel bekommt die Quittung für ihre Selbstvergessenheit: Die AfD profitiert von der Sabotage der FDP, der Neigung der Grünen zu Dekreten und der Abstinenz des Bundeskanzlers.

Der Bundeskanzler hat ein paar bedenkenswerte Sätze ausgesprochen, es wurde ja auch Zeit. Aber sie klingen wie in Watte gepackt, merkwürdig unangemessen. Ja, es ist so, der zwangsweise Austausch alter Heizungsanlagen betrifft sehr viele Menschen, wie Olaf Scholz sagt. Genauer gesagt sämtliche Besitzer von Wohnungen oder Häusern und dazu jeden Mieter hierzulande, auf den Investitionen im Keller oder auf dem Dach oder am Gebäude abgewälzt werden könnten. Es ist auch wahr, dass dieser Umstand "unmittelbar für Aufregung geeignet ist", wie er anfügt.

Alles richtig, es gibt nur ein Problem mit diesen Aussagen. Sie wirken merkwürdig lakonisch, fast unernst. Scholz moniert, dass es ab und zu quietsche, wobei alle "ein bisschen recht" hätten, aber was sie zu sagen haben, sollten sie "ein bisschen leiser vortragen". Ernsthaft jetzt?

Scholz spricht nicht gerne Machtworte

Es ist die Stärke dieses Bundeskanzlers, dass er sich nicht andauernd aufregt und Machtworte ausspuckt. Es ist zugleich seine Schwäche, dass er die Dinge laufen lässt, Abstinenz übt und entrückt wirkt.

Seine Sätze, die wie in Watte verpackt daherkommen, hat er in der langen Nacht der "Zeit" vorgetragen, nicht etwa auf einer Pressekonferenz in Berlin oder in einem offiziellen Interview. Eben so nebenher bei einer halboffiziellen Gelegenheit, sodass seine Worte zwar zur Kenntnis genommen werden, aber kein übermäßiges Gewicht bekommen.

Die Dinge liegen aber anders. Sie haben die Tendenz zum Drama. Die FDP gefällt sich als Opposition in der Regierung. Der Wirtschaftsminister hat sein schönes Gebäudeenergiegesetz gegen die Wand gefahren. Die SPD schaut interessiert zu.

Der Kanzler sitzt im Amtssitz wie hinter Milchglas

Und der Kanzler hockt wie hinter Milchglas in seinem Kanzleramt und wenn er heraustritt, tut er so, als kabbelten sich vor seinem Adlerauge junge Hunde miteinander, denen es verständlicherweise an Reife fehlt: Alles halb so wild, liebe Leute, wird schon wieder, ich erziehe sie, keine Sorge.

Den Schaden hat die Regierung und jede der drei Parteien, die sie tragen. Denn Koalitionen gewinnen und verlieren miteinander. Die FDP, die sich vom Sabotieren grüner Vorhaben Zugewinne erhofft, hat nichts davon. Die demoskopischen Erhebungen der vergangenen Woche sprechen Bände. Nicht die FDP und auch nicht die CDU profitiert von dem Tohuwabohu in der Regierung, sondern die blassen Erben von Alexander Gauland, die für den Verfassungsschutz ein Verdachtsfall sind.

Frankreich, Polen und Italien als abschreckende Beispiele

Olaf Scholz war schon mal weiter mit seinen Einsichten, was unter welchen Umständen passieren kann. Im Wahlkampf sagte er, es dürfe in Deutschland zu keiner Polarisierung zwischen liberal-kosmopolitischen Eliten und sozial-nationalen Populisten kommen. Ihm dienten Frankreich und Polen als abschreckende Beispiele, auch Italien gehört in diese Reihe.

Noch ist es hierzulande nicht so weit wie in jenen Ländern, aber die Momentaufnahmen sollten besser zum heilsamen Schock gereichen, damit Deutschland Abstand zu Ländern hält, welche die Demokratie ramponieren.

Gendern spielt in deutschen Kleinstädten keine Rolle

Deutschland ist eben nicht nur Berlin und München und Hamburg. Metropolen sind die Ausnahme. Deutschland besteht mehrheitlich aus Mittelstädten und Kleinstädten, in denen das Gendern und die Cancel Culture und die Rücksichtnahme auf Minderheiten nicht zu den viel beachteten Problemen gehören.

In diesen Kommunen ist es entscheidend, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen, unterbringen und bürokratisch betreuen müssen. Die Überarbeitung des Asylgesetzes ist in Berlin vielleicht ein mechanischer Vorgang, aber nicht in Aschaffenburg oder Darmstadt oder Kaiserslautern oder Hagen. Und natürlich sorgt das baldige Verbot für Öl- und Gasheizungen nicht nur für Aufregung, sondern für Protest aus Wut auf und Unverständnis für die Regierung.

 

Unsere Demokratie ist eine Kanzler-Demokratie

Die Eliten in Berlin, die sich in dieser Bundesregierung ein Stelldichein geben, haben in ihren internen Scharmützeln die Wirkung ihrer selbstvergessenen Auseinandersetzungen aus den Augen verloren. Das Habeck-Gesetz betrifft 40 Millionen Haushalte – nicht wenig, oder? Da ist einiges an Aufklärung nötig, ob die Fernwärmenetze ausgebaut werden oder die Pelletheizung okay ist und in welcher Höhe die Wärmepumpe staatlich gefördert wird.

Kein Hexenwerk, doch dem Selbstreflexionsakrobaten Robert Habeck ist passiert, was ihm nicht hätte passieren dürfen: Er versäumte es bis heute, seine Vorhaben verständlich zu erklären. Und der Kanzler schreitet nicht ein, ruft niemanden zur Ordnung und behält für sich, was er selbst über die Klimawende denkt. Warum eigentlich?

 

Funktional ist unsere Demokratie eine Kanzler-Demokratie, was in den Tagen von Olaf Scholz in Vergessenheit gerät. Gute Kanzler von schlechten Kanzlern unterscheidet der Sinn fürs Timing, fürs Handeln im richtigen Augenblick. Wäre vorteilhaft, wenn er sich darauf besinnen könnte.

Zitat

Umfragewerte: „Mikromanagement mit Überregulierung“ – Unternehmer sind so unzufrieden mit der Ampel wie selten

Laut einer aktuellen Umfrage ist die Zufriedenheit der Deutschen mit der Ampelkoalition auf dem Tiefstand. Auch die Wirtschaft ist so frustriert wie selten. Foto: dpadata-portal-copyright=

Laut einer aktuellen Umfrage ist die Zufriedenheit der Deutschen mit der Ampelkoalition auf dem Tiefstand. Auch die Wirtschaft ist so frustriert wie selten. Foto: dpadata-portal-copyright=© Bereitgestellt von Handelsblatt

Das Gros der Deutschen hadert mit der Bundesregierung, auch die Wirtschaft ist frustriert. Unternehmerinnen und Unternehmer kritisieren Dirigismus, Mikromanagement und fehlendes Tempo.

Die Ampelkoalition verliert nicht nur in der Bevölkerung an Rückhalt, sondern auch in der Wirtschaft. „Statt eine Strategie zu erarbeiten, betreibt die Regierung Mikromanagement mit Überregulierung“, kritisiert Nikolas Stihl, Beiratschef des gleichnamigen Motorsägenherstellers, im Handelsblatt-Interview. Ein Paradebeispiel für teures Mikromanagement sei das neue Heizungsgesetz.

Auch Natalie Mekelburger, geschäftsführende Gesellschafterin des Kabelspezialisten Coroplast, sagt, die Probleme einer „kleinteiligen und dirigistischen Energiewende“ würden immer offensichtlicher. „Da dies aber nur dem kleinsten Koalitionspartner bewusst ist und der marktwirtschaftliche Ansatz der FDP nicht zum planwirtschaftlichen Ansatz der Grünen passt, ist es kein Wunder, dass die Konflikte jetzt hochkochen.“

Arndt Kirchhoff, Verwaltungsratschef der Kirchhoff-Gruppe, die unter anderem als Autozulieferer aktiv ist, fordert, dass die Regierung deutlich an Geschwindigkeit zulegen müsse. „Das angekündigte Deutschland-Tempo muss sichtbar werden bei Planungs- und Genehmigungsverfahren, bei Bürokratieabbau oder beim Ausbau der erneuerbaren Energien“, sagt Kirchhoff, der auch Unternehmerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist.

Die Stimmung der Unternehmerinnen und Unternehmer deckt sich mit der Stimmung des Gros der Deutschen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap fiel die Zufriedenheit mit der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP auf einen Tiefstand. Nur noch jeder Fünfte der Befragten ist mit der Arbeit der Regierung zufrieden.

Zugleich setzt die AfD ihren Umfrage-Aufschwung fort und zieht im neuen ARD-„Deutschlandtrend“ mit der SPD gleich. Beide Parteien kommen laut Infratest Dimap auf 18 Prozent und teilen sich Platz zwei in der Gunst der Wählerinnen und Wähler.

Einer weiteren Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Insa für die „Bild am Sonntag“ zufolge könnte die AfD ebenso wie die SPD 19 Prozent der Stimmen holen, wäre an diesem Sonntag Bundestagswahl. Das ist ein Prozentpunkt mehr als in der Vorwoche.

Seitdem läuft eine verstärkte Debatte über die Ursachen für das Umfragehoch der AfD. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht als Grund vor allem die Unsicherheit in krisenhaften Zeiten. „Wir leben in einer Zeit der Umbrüche, in der ganz viele Bürgerinnen und Bürger in unseren Ländern nicht so sicher sind, ob die Zukunft auf ihrer Seite ist und ob sie eine haben“, sagte Scholz am Samstagabend bei der Veranstaltung „Lange Nacht der Zeit“ in Hamburg.

Das bekommen auch manche Familienunternehmen bereits konkret zu spüren. Alexander Fackelmann, geschäftsführender Gesellschafter des gleichnamigen Haushaltswarenherstellers, sieht die Ursachen für die Probleme seiner Branche und des Einzelhandels auch in der Verunsicherung der Kunden über das Handeln der Regierung: „Die Leute sparen für die Wärmepumpe und sind verunsichert, wie viel ihres Geldes sie für Energie ausgeben müssen.“

NRW-Unternehmerpräsident Kirchhoff betont, dass die Regierung ihre Ankündigung für ein Belastungsmoratorium für die Wirtschaft ernst nehmen müsse. Davon hänge ab, „ob Investitionsentscheidungen von Unternehmen für Deutschland oder für andere Standorte in der Welt getroffen werden“.

Mit Blick auf den Industriestandort Deutschland verweist Unternehmer Stihl auf den Länderindex, den das ZEW Mannheim im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen veröffentlicht hat und der die Attraktivität des Standortes misst. Unter 21 führenden Wirtschaftsnationen belegt Deutschland Platz 18, vier Plätze hinter dem Rang bei der vorherigen Erhebung im Jahr 2020. Vor allem beim Thema Regulierung verschlechterte sich Deutschland im Ländervergleich.

„Wir müssen den Staatshaushalt umstrukturieren, vor allem in Richtung Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung, mehr marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen und natürlich weniger Regulierung, mehr Bürokratieabbau“, fordert Stihl.

Derzeit plant die Bundesregierung einen vergünstigten Strompreis für energieintensive Industrieunternehmen, sie steht allerdings vor einem Dilemma: Einerseits ist in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Strom sehr teuer (ZEW-Länderindex Platz 19 von 21), anderseits müssen aber auch die Klimaziele erreicht werden.

Während etwa die Vorsitzende des Sachverständigenrats, Monika Schnitzer, glaubt, ein Industriestrompreis verteile Steuergelder von weniger energieintensiven Branchen in energieintensive Branchen, was den dringend notwendigen Strukturwandel bremse, warnt die Wirtschaft vor Abwanderung aus Deutschland.

Um nicht im Wettbewerb mit anderen europäischen Ländern, mit China und den USA ins Hintertreffen zu geraten, fordert Unternehmer Kirchhoff daher „jetzt schnell einen Industriestrompreis – insbesondere auch für unseren energieintensiven industriellen Mittelstand“. Es gibt aber ebenso kritische Stimmen aus der Wirtschaft zum Industriestrompreis, zum Beispiel von Marie-Christine Ostermann.

Die Präsidentin der Familienunternehmer und geschäftsführende Gesellschafterin des Lebensmittelhändlers Rullko führt zwei Gründe für ihre Skepsis an: „Die enorm hohen Energiepreise sind politisch bedingt, die Steuern, Abgaben, Umlagen und Netzentgelte könnte man senken und das Gebäudeenergiegesetz gleich ganz streichen“, sagt die Unternehmerin. Sie favorisiert weiterhin den Emissionshandel vorzuziehen, der durch die EU ohnehin 2027 kommen werde.

Auch das Argument, dass der CO2-Preis künftig sehr hoch ausfallen würde, lässt sie nicht gelten. „Über den Emissionshandel bekommt der Staat Milliardenbeträge rein. Damit lassen sich alle Härten aus steigenden Preisen abfedern.“

Ostermann kritisiert vor allem, dass beim Industriestrompreis und auch bei „grünem Strom“ nur Großunternehmen begünstigt würden. Nur rund 2000 von 40.000 Industriefirmen würden den Industriestrompreis bekommen: „Ein Tiefschlag für den deutschen Mittelstand.“

Zitat

„Nachbesserungsbedarf“: Stoppt das Bauministerium jetzt den EU-Sanierungszwang bei Gebäuden?

„Nachbesserungsbedarf“: Stoppt das Bauministerium jetzt den EU-Sanierungszwang bei Gebäuden?

Klara Geywitz

Klara Geywitz© M. Popow/IMAGO

Der Trilog zur umstrittenen Gebäuderichtlinie soll kommende Woche beginnen. Nun fordert Bauministerin Klara Geywitz (SPD) Änderungen an der längst beschlossenen Position der Mitgliedstaaten.

Kurz vor Beginn des Trilogs zur Gebäuderichtlinie am kommenden Dienstag hat die Bundesregierung noch keine abgestimmte Verhandlungsposition. Allerdings prescht Bauministerin Klara Geywitz (SPD) mit der Forderung vor, das Mandat gegenüber der allgemeinen Ausrichtung des Rates vom Oktober abzuändern.

Man sehe „Nachbesserungsbedarf“, teilte eine Sprecherin auf Anfrage mit. Dies betreffe zum einen die Mindestvorgaben für die Gesamtenergieeffizienz (MEPS), also die Details zum umstrittenen „Sanierungszwang“. Außerdem kritisiert das Ministerium den Standard für Nullemissionsgebäude – also das Langfristziel der EU für die Sanierung des gesamten Gebäudebestandes in Richtung Klimaneutralität.

Türöffner für Wasserstoff zum Heizen

„Dies betrifft beispielsweise die Hauptanforderungsgröße Primärenergiebedarf. Aus Sicht der Bundesregierung wäre die Öffnung für andere Kriterien wünschenswert, da sie sich mit dem Koalitionsvertrag vorgenommen hat, die Anforderungssystematik stärker auf Treibhausgas-Emissionen auszurichten“, erklärte Geywitz’ Sprecherin weiter. Wenn der CO₂-Ausstoß die entscheidende Größe werden soll, lässt sich dies aber auch als Türöffner für das Heizen mit Wasserstoff oder synthetischem Methan verstehen – gehen doch bei der Herstellung laut Öko-Institut 30 bis 40 Prozent der Primärenergie verloren.

Strengere Effizienzvorgaben hatte die Bauministerin Mitte Mai gleich komplett infrage gestellt. Wenn Deutschland kurzfristig ein Einbauverbot für fossile Heizungen einführe, sei bereits viel für die Dekarbonisierung erreicht. „Ich bin nicht überzeugt, dass wir dann auch noch gleichzeitig alles unternehmen müssen, um auch noch jedes Gebäude möglichst energieeffizient zu machen“, zitierte die „FAZ“ die Ministerin bei einer Rede vor Immobilienmanagern.

Geywitz denkt über Quartiersansatz nach

Damit ging die SPD-Politikerin noch über kritische Äußerungen wenige Wochen zuvor hinaus. Ein Gastbeitrag für die „Welt“ ließ sich so interpretieren, dass sie energetische Standards womöglich weder auf einzelne Gebäude, wie Kommission und Parlament es fordern, noch auf den nationalen Gebäudebestand, wie der Rat es will, beziehen möchte, sondern auf Quartiere.

Für den Quartiersansatz hatten sich bereits Brüsseler Unions- und FDP-Politiker ausgesprochen. Mehrere Abgeordnete hatten vor der Positionierung des EU-Parlaments einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, darunter der Liberale Andreas Glück, der das Sanierungstempo aus der Richtlinie generell für überzogen hält. „In zehn Jahren müssten 55 Prozent des europäischen Gebäudebestandes saniert werden“, sagt der Abgeordnete. „Wir haben aber nicht nur den Fachkräftemangel, es ist auch schwierig an Baumaterial zu kommen.“

Grüne: Quartiersansatz sozial unausgewogen

Der grüne Berichterstatter des Parlaments, Ciarán Cuffe, ist weiter ein strikter Gegner von energetischen Standards auf Ebene ganzer Stadtviertel. „Ich lehne die Anwendung eines Quartiersansatzes für Mindestnormen für die Gesamtenergieeffizienz ab, weil dies für sozial schwache Haushalte katastrophal wäre“, sagt der irische Abgeordnete. „Dies würde gezielte Maßnahmen für die Gebäude mit den schlechtesten Energiestandards in einem Quartier verhindern und schutzbedürftige Haushalte zur Energiearmut verdammen.“

Die FDP beharrt aber darauf, die Ziele von Parlament und Kommission im Trilog abzuschwächen. „Das muss geändert werden, wenn die Bundesregierung zustimmen soll“, sagte Parteichef und Finanzminister Christian Lindner vor Kurzem der „Wirtschaftswoche“. Sein Credo: „Weitere Steigerungen“ der energetischen Anforderungen seien nicht tragbar. Das grün geführte Wirtschaftsministerium wehrt sich aber offensichtlich dagegen, den Status quo festzuschreiben. Ziel seien lebensnahe Regelungen, die „niemanden überfordern“ und gleichzeitig die Klimaneutralität sicherstellen, sagt eine Sprecherin.

FDP-Abgeordneter: Andere Staaten sollen zuerst sanieren

Bei den Liberalen geht dagegen die Angst um, über die Gebäuderichtlinie der EU könnten Anforderungen greifen, die sie den Grünen auf nationaler Ebene mühsam aus dem Gebäudeenergiegesetz herausverhandeln. In Berlin drängt die FDP auf eine Einigung noch vor den EU-Wahlen Mitte 2024. Kaum ein EU-Mitgliedsland wolle den Streit um milliardenteure Sanierungen in den Wahlkampf tragen, sind mehrere Liberale überzeugt.

Konkrete Änderungswünsche hat der Brüsseler FDP-Abgeordnete Glück. Am liebsten wäre dem Liberalen, wenn der Klimaschutz im Gebäudesektor dem ETS 2 überlassen bliebe. Im Detail stört ihn an der Gebäuderichtlinie der Ansatz der Kommission, die Effizienzklassen nicht europaweit einheitlich zu definieren, sondern von Staaten mit energetisch besserem Gebäudebestand — und tendenziell wohlhabenderen Bürgern — höhere Sanierungsanstrengungen zu verlangen.

Zahlreiche Ausnahmen von Sanierungspflicht

Der Grünen-Abgeordnete Cuffe verweist dagegen auf die zahlreichen Ausnahmen, die die Parlamentsposition vorsieht. Auch wenn die Einteilung der Effizienzklassen auf deutscher und europäischer Ebene nicht eins zu eins vergleichbar ist, entspricht wohl gut die Hälfte der Wohngebäude in Deutschland bereits der Effizienzklasse D oder besser. Sie wären damit auch nach den vermeintlich strengen Anforderungen des Parlaments bis 2033 gar nicht von verschärften Sanierungspflichten betroffen.

Zusätzlich können die Mitgliedstaaten bis Ende 2036 bis zu 22 Prozent der Wohngebäude von der Sanierungspflicht ausnehmen. Eine weitere Ausnahme gilt für denkmalgeschützte Bauten. Aus Cuffes Umfeld heißt es deshalb: „Die Mindeststandards gelten also nicht für alle Gebäude, sondern nur für einen sehr begrenzten Prozentsatz des Bestands.“

Zitat

Statistik-Expertin Schüller - Warum es unserer Regierung an Datenkompetenz mangelt

Statistik-Koryphäe Katharina Schüller empfiehlt auch Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, sich genauer mit Daten zu befassen. dpa, E+A Fotografie/Tanja Smith

Statistik-Koryphäe Katharina Schüller empfiehlt auch Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, sich genauer mit Daten zu befassen. dpa, E+A Fotografie/Tanja Smith© dpa, E+A Fotografie/Tanja Smith

Politiker müssen lernen, evidenzbasiert zu handeln. Das fordert Katharina Schüller, Statistik-Expertin und Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Denn zum Beispiel das Werbeverbot für bestimmte Lebensmittel basiert unter anderem auf der Fehlinterpretation einer Studie.

Warum ist der Vorschlag der Grünen zum Werbeverbot für bestimmte Lebensmittel ein Beispiel für fehlende Datenkompetenz?

„Warum lassen wir es zu, dass Kinder im Schnitt 15 Werbespots, für Zuckerbomben, für salzige und fettige Snacks sehen?“ Damit begründet Ernährungsminister Özdemir streng blickend seinen Vorschlag, Werbung für ungesunde Lebensmittel an Kinder zu verbieten. Ein ehrenwerter Vorschlag, doch die Sache hat einen Haken: Die 15 Werbespots pro Tag sind schlichtweg falsch. Schaut man sich die zugrundeliegende Studie genauer an, stellt man fest, dass der werbefreie Sender KIKA in der Analyse überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Darüber hinaus beziehen sich die 15 Werbespots nur auf eine Untergruppe, für alle Kinder ist die Zahl wesentlich geringer. Schaut man sich also – was man von einem Bundesministerium erwarten sollte - die Rechnungen und Annahmen der Studie genauer an, wird schnell klar, dass die 15 Werbespots pro Tag falsch sind. Ein klarer Fall von mangelnder Datenkompetenz in der Politik – leider nicht der einzige.

Welche grundlegenden Fähigkeiten benötigen Politiker, um evidenzbasiert zu handeln?

Um evidenzbasiert zu handeln, müssen Politiker erst einmal erkennen, was überhaupt seriöse Evidenz ist – also: Auf welche Daten kann ich mich wirklich verlassen? Was muss ich bei diesen Daten beachten? Hat der Bereitsteller dieser Daten vielleicht ein besonderes Interesse, das ich im Hinterkopf behalten sollte? Nicht ohne Grund kennen viele den Spruch: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Insbesondere Politiker, die von Experten und Lobbyisten – leider sind das manchmal ein und dieselbe Person – umgeben sind, müssen aufpassen, wenn ihnen Zahlen präsentiert werden. Denn auch wenn diese oft den Anschein der Neutralität und Genauigkeit erwecken, ist das selten der Fall – siehe Werbeverbot. Daher brauchen Politiker Datenkompetenz, also die Fähigkeit, Daten auf kritische Art und Weise zu sammeln, managen, bewerten und anzuwenden. Zum Sammeln und Managen der Daten haben Politiker selbst keine Zeit – umso wichtiger, dass sie fähig sind, die Daten anderer zu überprüfen. Nur so können Politiker evidenzbasierte und unabhängige Entscheidungen treffen.

Was sind typische Fehler, die Politiker beim Lesen von Studien machen?

Der erste Fehler ist vermutlich, dass Politiker gar keine Studien lesen. Und wenn sie Studien lesen, dann vermutlich nur sehr oberflächlich. Beides nachvollziehbar, wenn man den hektischen Politikalltag bedenkt. Umso wichtiger ist es daher, dass Politiker von Menschen beraten werden, die Studien kritisch lesen können. Um beim Werbeverbot zu bleiben: Ich gehe nicht davon aus, dass Cem Özdemir die fragwürdige Studie selbst gelesen hat, sondern seinen Mitarbeitern bzw. dem Studienautor blind vertraut hat. Das ist naiv, Özdemir hätte die Zahlen kritisch hinterfragen müssen oder Experten um eine Einschätzung bitten sollen – selbst wenn die Zahlen gut in die eigene Agenda passen. Insofern ist das Problem nicht unbedingt, dass Politiker keine Studien lesen (können) – sondern dass Politikern die Fähigkeit fehlt, Zahlen kritisch zu hinterfragen – und im Zweifelsfall Statistik-Experten um Rat zu fragen.

Warum ist Datenkompetenz entscheidend für eine funktionierende Demokratie?

Nun, damit Demokratie funktioniert, müssen die Wähler wissen, was Sache ist: Brummt die Wirtschaft? Geht es beim Klima voran? Zeigt das neue Gesetz die erhoffte Wirkung? Nur dann können die Wähler entscheiden, ob eine Regierung gut oder schlecht regiert hat – auch wenn das am Ende natürlich jeder anders sieht. Doch einige Ziele können knallhart gemessen werden, zum Beispiel der CO2 Ausstoß der verschiedenen Sektoren in Deutschland. Nachdem das Verkehrs- und das Bauministerium diese Ziele mehrfach verfehlt haben, will die Ampel die Ziele kurzerhand aufweichen. Sollten Sie also zukünftig die Meldung „Verkehrsministerium verfehlt erneut Klimaziele“ vermissen, liegt das vermutlich nicht an einer besseren Politik, sondern an aufgeweichten Sektorzielen. Auch hier hilft Datenkompetenz – nämlich um zu erkennen, wann die Politik ihre Ergebnisse schönrechnet.

Wie können wir sicherstellen, dass politische Entscheidungen auf korrekter Datenauswertung basieren?

Hier sind wir alle gefragt: die Politik, die Medien, aber auch die Bürgerinnen und Bürger. Den Anfang muss natürlich die Politik machen, indem sie ihre Daten und Auswertungen veröffentlicht. Nur dann können Medien, Experten und Bürger die jeweilige Entscheidungsgrundlage überhaupt überprüfen und Verbesserungen vorschlagen. Hier gewinnt die Demokratie übrigens doppelt: Entscheidungen werden nicht nur transparenter, sondern auch besser. Um dazu beizutragen, müssen allerdings auch die Bürgerinnen und Bürger ihre Datenkompetenz ein gutes Stück steigern: Laut dem D-21 Digitalindex fällt es beispielsweise knapp der Hälfte der Deutschen schwer, die Richtigkeit von Informationen im Internet zu beurteilen. Auch hier muss die Politik liefern: Datenkompetenz gehört in den Schulunterricht. Doch auch die Medien müssen ihre Datenkompetenz verbessern, da Daten eine immer größere Rollen in der Politik spielen. Die Corona-Pandemie hat eindrucksvoll gezeigt, dass auch hier immer noch Luft nach oben ist.

Zitat

„Bundesminister fliegen um die Welt und wecken große Erwartungen, die in der Realität platzen“

Experten stellen die Brasilien-Reise von Arbeitsminister Hubertus Heil infrage. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz mahnt, dass neben der Anwerbung von Pflegekräften auch die Integration wichtig sei. Dennoch könne die Personalnot nur in Deutschland gelöst werden.

„Bundesminister fliegen um die Welt und wecken große Erwartungen, die in der Realität platzen“

„Bundesminister fliegen um die Welt und wecken große Erwartungen, die in der Realität platzen“© Annette Riedl/dpa-pool/dpa

Die Pläne von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), in Brasilien vermehrt Pflegefachkräfte anzuwerben, stoßen bei Experten auf Kritik. Der Ansatz verkenne die Realität, erklärte die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Mit der Anwerbung von Personal sei es nicht getan, auch die Integration der neuen Mitarbeitenden müsse besser gestaltet werden, bemängelte am Dienstag die Ruhrgebietskonferenz Pflege in Dortmund.

Heil war gemeinsam mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach Brasilien gereist, um die Partnerschaft zur Gewinnung von gut ausgebildeten Fachkräften auszubauen. Er unterzeichnete laut Ministerium mit seinem Amtskollegen Luiz Marinho eine gemeinsame Absichtserklärung für „faire Einwanderung“. Derzeit würden in dem südamerikanischen Land vermehrt Möglichkeiten geschaffen, zukünftige Pflegende besonders für den deutschen Arbeitsmarkt auszubilden. Nun sollen die zuständigen Behörden ihre Zusammenarbeit intensivieren.

„Seit Jahrzehnten fliegen Bundesminister um die Welt und wecken überall große Erwartungen, die in der Realität platzen“, kritisierte Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz in Dortmund. „2022 konnten nur 656 Pflegekräfte außerhalb der EU gewonnen werden. Davon kamen 34 professionell Pflegende aus Brasilien.“ Diese Fakten seien sehr ernüchternd.

Das Dilemma der Personalnot müsse in Deutschland gelöst werden, erklärte Brysch. Auch würden die beiden Minister die Herausforderungen für viele ausländische Pflegekräfte bei der Integration in den deutschen Arbeitsmarkt verkennen. Denn oft litten im Ausland angeworbene Mitarbeiter an drastisch eingeschränkten Kompetenzen des Berufsstandes im Vergleich zu ihrem Heimatland. „Auch hier ändert sich in Deutschland nichts“, rügte Brysch.

Die Ruhrgebietskonferenz Pflege stellte die Frage, wie es um die Erfolge solcher Initiativen stehe. „Wir müssen uns ehrlich machen und eine offene Diskussion über die Grenzen und Hindernisse der Integration führen“, sagte Ulrich Christofczik, Vorstand vom Christophoruswerk und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg. „Der Transfer ausländischer Arbeitskräfte wird den Personalmangel in der Langzeitpflege nicht alleine beheben. Er kann aber Teil der Lösung sein.“

Um auf Dauer einen fortlaufenden Zufluss von dringend benötigten Arbeitskräften aus dem Ausland zu gewährleisten, würden professionelle und tragfähige Unterstützungsstrukturen innerhalb und außerhalb der Einrichtungen und Dienste gebraucht.

Zitat

Wie gefährlich wird die Visa-Affäre für Baerbock?
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne): "Wer keine Fehler macht, der lebt nicht."

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Archivbild): Welche Konsequenzen könnte die Visa-Affäre für die Politikerin haben? (Quelle: IMAGO/Thomas Trutschel)

In der Visa-Affäre im Auswärtigen Amt hat die Berliner Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet. Die Vorwürfe wiegen schwer, aber sind sie gerechtfertigt?

Das Wichtigste im Überblick

Es sind Berichte, die für Aufsehen sorgen: Haben Mitarbeiter im Ministerium von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) darauf hingewirkt, einem jungen Mann die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, obwohl dessen Angaben mutmaßlich gefälscht waren?

Nun ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft in dem Fall. Wie gefährlich kann die Affäre für Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) werden? Antworten auf die wichtigsten Fragen im Überblick.

Worum geht es in der Visa-Affäre?

Im Zentrum der Visa-Affäre steht ein angeblicher Afghane. Der junge Mann, Mohammad G., soll in der deutschen Botschaft in Pakistan angegeben haben, im Rahmen eines Familiennachzugs zu seinem Bruder nach Deutschland kommen zu wollen, berichten "Cicero" und "Business Insider". Der angeblich 14-Jährige gab an, er sei aus Afghanistan ins benachbarte Pakistan geflohen und lebe auf der Straße.

In Afghanistan sei er von Bombensplittern getroffen worden und leide seitdem an einer Augenverletzung. Vor dem Verwaltungsgericht in Berlin hatte er laut Angaben des Auswärtigen Amtes auf die Ausstellung eines deutschen Visums geklagt. Dabei wurde ein Vergleich geschlossen, der Deutschland verpflichtet, ein Visum auszustellen.

Die Mitarbeiter in der Botschaft in Islamabad allerdings sollen erhebliche Zweifel an dessen Identität gehabt haben, berichten "Cicero" und "Business Insider". Sie gingen unter anderem davon aus, dass der Mann wesentlich älter war – auch sei sein Pass gefälscht gewesen.

Trotz dieser Zweifel hätten hochrangige Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Berlin die Botschaftsmitarbeiter dazu gedrängt, dem jungen Mann ein Visum für die legale Einreise nach Deutschland auszustellen. Die Einreiseerlaubnis solle erteilt werden, "falscher Pass hin oder her", zitiert "Business Insider" aus einer internen Mail des Leiters des Referats für Visumrecht.

Warum ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft?

Nun könnte es in dem Fall strafrechtliche Konsequenzen geben. Die Staatsanwaltschaft Berlin zumindest sieht einen Anfangsverdacht begründet. Unter dem Aktenzeichen 235 UJs 848/23 hat sie Ermittlungen gegen unbekannt eingeleitet. Der Vorwurf: Rechtsbeugung.

"Ob sich der Anfangsverdacht jedoch erhärtet und wenn ja, sich gegen MitarbeiterInnen des Auswärtigen Amtes begründen lässt, wird derzeit geprüft", sagt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft "Business Insider".

imago images 0201366557
Eingang zum Auswärtigen Amt (Archivbild): "Für das AA scheinen nicht einmal gefälschte Pässe ... ein Problem zu sein", soll es in der Anzeige heißen. (Quelle: IMAGO/Karl-Heinz Spremberg)

Dass die Staatsanwaltschaft nun ermittelt, geht laut "Cicero" zurück auf eine Anzeige eines ehemaligen Mitarbeiters des Bundesinnenministeriums. Dieser hatte offenbar Strafanzeige gegen Verantwortliche des Auswärtigen Amts gestellt, als der Fall publik geworden war.

"Die Aufnahme von Personen aus Krisengebieten mit ungeklärter Identität und Staatsangehörigkeit ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland", zitiert "Cicero" aus dessen Anzeige. "Für das AA scheinen nicht einmal gefälschte Pässe und erfundene Verwandtschaftsverhältnisse ein Problem zu sein."

Welche Konsequenzen könnte das für Baerbock haben?

"Was Mohammad G. angeht, der außerhalb der Aufnahmeprogramme über den Familiennachzug nach Deutschland kommen wollte, ist die spannende Frage, was Annalena Baerbock von der Visa-Affäre wusste", schreibt das Magazin "Cicero".

Doch Hinweise, dass Baerbock in irgendeiner Weise in die mögliche Visa-Vergabe verstrickt sein soll, gibt es nicht. Eigentlich laufen derartige Prozesse nicht über den Schreibtisch der Ministerin, sie liegen bei den zuständigen Beamten. Außerdem muss die Frage geprüft werden, ob die möglichen Unstimmigkeiten in diesem Fall eine gängige Praxis in Baerbocks Haus sind oder nicht. Auch dafür gibt es allerdings bislang keine Hinweise.

Im Auswärtigen Amt scheint man zunächst abwarten zu wollen, ob die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft überhaupt weiterlaufen. Auf Anfrage von t-online heißt es aus dem Ministerium nur: "Die Medienberichte über staatsanwaltschaftliche Ermittlungen sind uns bekannt." Bisher wurde das Ministerium aber noch nicht von der Staatsanwaltschaft kontaktiert. Das würde erst passieren, wenn es auch ein offizielles Verfahren gibt.

Zitat

9,9 Staats-Milliarden für ein Werk in Magdeburg – „Im Grunde ist das Wahnsinn“

Mit Milliarden-Subventionen will Robert Habeck Intel zum Bau von zwei Chipfabriken bei Magdeburg bewegen. Die Werke sollen Europas Versorgungssicherheit stützen – und tausende Jobs schaffen. Namhafte Ökonomen reagieren skeptisch.

Ein Bagger auf dem Gelände der geplanten Intel-Fabrik bei Magdeburg Getty Images/Ronny Hartmann

Ein Bagger auf dem Gelände der geplanten Intel-Fabrik bei Magdeburg Getty Images/Ronny Hartmann© Bereitgestellt von WELT

Am Sonntag will Intel-Chef Pat Gelsinger privat nach Wittenberg reisen, zum Besuch der Lutherstätten. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hatte Gelsinger eingeladen. Beim Besuch der Schlosskirche dürfte Haseloff still mitbeten, auf dass der größte Deal seiner Amtszeit gelinge.

Denn wenn alles glattläuft, wird Gelsinger am Montag nach Berlin weiterreisen und dort im Kanzleramt zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz den Vertrag über den Bau von zwei Chipfabriken auf der grünen Wiese in Magdeburg unterzeichnen.

Das Investitionsvolumen beträgt knapp 30 Milliarden Euro – und der deutsche Staat gibt knapp zehn Milliarden dazu. Damit konnte Intel, laut einem Bericht des Handelsblatts vom Donnerstag, auf die letzte Minute noch einmal erheblich mehr Subventionen heraushandeln als ursprünglich abgemacht.

Sowohl die Baukosten als auch die Beihilfen sind seit der ersten Bekanntgabe der Intel-Investition um etwa 30 Prozent gewachsen. Aktuell will keiner der Beteiligten den Bericht kommentieren, zu groß erscheint die Gefahr, dass der Abschluss doch noch platzt.

Denn eigentlich hatte sich insbesondere Finanzminister Christian Lindner gegen eine Anhebung der Intel-Subventionen über das ursprünglich vereinbarte Volumen von 6,7 Milliarden Euro heftig gewehrt. Noch am Wochenende hatte er im Interview mehr Geld für Intel eine kategorische Absage erteilt.

Dass nun trotzdem gut drei Milliarden Euro mehr fließen, liegt an einer Zusage von Wirtschaftsminister Robert Habeck – der hat laut Handelsblatt-Bericht noch ein Sondervermögen aufgetrieben, aus dem die Intel-Gelder aufgestockt werden.

Bis zu 2000 Arbeitsplätze pro Intel-Fabrik

Intel verspricht dafür, ab dem kommenden Jahr im Magdeburger Industriegebiet Eulenberg zwei Fertigungseinheiten, sogenannte Mega-Fabs, zu bauen. Die sind exakte Kopien der restlichen aktuellen Intel-Fabriken in Irland, Oregon, Israel und Arizona.

Sie bringen etwa 1500 bis 2000 Arbeitsplätze pro Fab. Doch nicht allein die Arbeitsplätze bei Intel selbst sind ausschlaggebend für die Subvention: Beim Besuch bei Intel Irland in Leixslip sieht man bereits bei der Zufahrt zum Werk, wie ein ganzes Netzwerk aus Zulieferfirmen, Ingenieurbüros, Dienstleistern die Fabrik versorgt. Für jeden Job im Werk sollen zwei hoch qualifizierte Jobs drumherum entstehen, sagt Intel.

In Irland scheint das funktioniert zu haben, laut lokalen Medienberichten wirkt die Intel-Fabrik als Antrieb für die lokale Wirtschaft in hundert Kilometern Umkreis. „Selbst wenn der Multiplikatorfaktor in der Realität zutrifft, wären die dann knapp 10.000 Jobs mit einer Million Euro pro Arbeitsplatz sehr hoch bezahlt“, kommentiert der Ökonom und Wettbewerbsexperte Justus Haucap von der Universität Düsseldorf.

„Im Grunde genommen ist das Wahnsinn, diese Wertschöpfung werden die kaum je wieder generieren können. Ich habe da die größten Bauchschmerzen.“ Denn durch die Subventionen könnten ungewollte Verdrängungseffekte und Wettbewerbsverzerrungen entstehen, warnt Haucap. „Die Fachkräfte für Chipfertigung zum Beispiel sind absolut knapp“.

Intel könnte nun, befeuert durch Subventionen, Fachkräfte bei bereits etablierten Chipfertigern wie etwa Globalfoundries in Sachsen abwerben. Auch im europäischen Kontext warnt Haucap vor Verstimmungen: „Die kleineren EU-Partnerstaaten können sich Subventionen in diesem Maßstab kaum leisten.“

Durch die konkurrierenden Subventionen der US-Regierung im „Inflation Reduction Act“ sei ein unguter Wettlauf entstanden. „Es fehlt in diesem Kontext an einer europäischen Strategie“, sagt der Wettbewerbsexperte. Mit den Konjunktureffekten allein wäre die Milliarden-Subvention also kaum zu rechtfertigen. Doch darüber hinaus ist die Versorgungssicherheit mit Chips für ganz Europa ein entscheidendes Kriterium für die Intel-Ansiedlung um jeden Preis.

An diesem Freitag verkündet Gelsinger im polnischen Wrocław, vor Ort ein Chipverarbeitungswerk (Assembly) zu bauen, in dem die fertig belichteten Chip-Rohlinge aus Magdeburg künftig geprüft, mit Kühlkörpern und Anschlussplatinen versehen und verpackt werden.

Mehr Chip-Autonomie für Europa

Damit wäre eine komplette Intel-Fertigungsstraße, von Wafer-Zulieferern über die Chipbelichtung bis zur Assembly, in Zentraleuropa etabliert. Da sich Intel künftig auch als Auftragsfertiger für andere Chiphersteller betätigen will, würde das Werk tatsächlich Versorgungssicherheit in der EU bringen.

Intel will in Magdeburg zudem die neueste Generation der EUV-Chipbelichtungsmaschinen des niederländischen Spezialisten ASML und seinen deutschen Zulieferern Trumpf und Zeiss einbauen – damit wäre Europa zukunftssicher ein Stück weit unabhängiger von den Auftragsfertigern in Taiwan.

Doch auch hier hinterfragen Ökonomen, ob diese Versorgungssicherheit vom Staat gewährleistet werden muss. „Die Absicherung gegen Versorgungsrisiken und Engpässe ist primär eine privatwirtschaftliche Aufgabe. Derartige Risiken sind normaler Teil des Wirtschaftsgeschehens“, kommentiert IFO-Präsident Clemens Fuest gegenüber WELT.

„Für staatliche Eingriffe muss man begründen, warum die Unternehmen selbst nicht hinreichend vorsorgen. Zehn Milliarden Euro für die Intel Fabrik in Magdeburg sind eine extrem hohe Versicherungsprämie. Das können wir uns unmöglich bei allen Gütern leisten, bei denen Lieferrisiken bestehen.“

Zudem müsse der Staat die Subventionen realistisch berechnen: „Wenn der geplante Industriestrompreis kommt, fließen zusätzliche Gelder. Chipfabriken verbrauchen extrem viel Energie.“ Es wäre zumindest wichtig, so Fuest, dass man nun in der letzten Verhandlungsrunde im Gegenzug von Intel auch die Ansiedlung von Forschung und Entwicklung in Magdeburg verlangt. „Da lassen sich die Subventionen wegen der Spillover-Effekte eher rechtfertigen.“

Zudem ist die Fertigung von High-End-Chips mit Strukturgrößen von fünf Nanometern und kleiner auch bislang in Europa gesichert: Intel hatte erst im Dezember 2022 im irischen Leixlip „first light“, also die erste Belichtung von Chips, in der neuen „Fab 34“ verkündet.

High-End-Chips aktuell nicht existenziell knapp

Auch hier werden Chips nach dem neuen EUV-Verfahren gebaut, auch hier will Intel künftig einen Teil der Kapazitäten als Auftragsfertiger anbieten. „Ein Handelsembargo durch Irland ist wohl eher unwahrscheinlich“, kommentiert Justus Haucap augenzwinkernd, „warum also nun nur das Werk in Magdeburg künftig die Versorgungssicherheit sicherstellt, ist mir nicht ganz klar.“

Global betrachtet sind Fertigungskapazitäten für die High-End-Chips aktuell zwar ausgelastet, nicht aber existentiell knapp. Zudem benötigt die deutsche Wirtschaft aktuell vor allem andere Chips – etwa solche zur Leistungssteuerung in Elektroautos, Maschinen und Werkzeugen. Ein entsprechendes Werk baut Bosch aktuell weiter aus.

Oder auch Chips für technisch anspruchsvolle Umgebungen und Anwendungen wie Industriesteuersysteme. Die müssen nicht mit der neuesten Belichtungstechnik gebaut werden, aber dafür robust und langlebig sein. Nicht jede Chipfabrik taugt für jede Chip-Anwendung, die Ansiedlung von weiteren Werken mit unterschiedlichen Schwerpunkten ist deswegen ein erklärtes Ziel der Bundesregierung.

Schon jetzt verhandelt der taiwanische Auftragsfertiger TSMC über eine Milliardeninvestition in Dresden. „Diese Hersteller werden nun ähnliche Erwartungen an die Höhe der Subventionen haben wie Intel“, warnt Haucap. „Und sie werden um dieselben Ressourcen konkurrieren – um Fachkräfte, aber auch um grüne Energie, eventuell um Wasser und um Kapazitäten bei Zulieferern.“ Haucap hofft, dass Robert Habeck sich nicht verkalkuliert hat.