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Russland

Historikerin sieht „Dämmerung des Putinschen Regimes“ in Russland beginnen

Historikerin Françoise Thom über die Belastbarkeit von Putins Herrschaft in Russland, den Tod von Nawalny und die Reaktion des Westens.

Frau Thom, Welche politische Bedeutung hat der Tod des Oppositionellen Alexei Navalny?

Mir kommt es wie eine Ohrfeige Wladimir Putins an den Westen vor. Für den russischen Präsidenten war Navalny ein Agent des „kollektiven Westens“. Wladimir Putin schickt ihm ein Signal, das besagen soll: Ich werde bis zum Letzten gehen und ihr könnt mir nichts anhaben. Es ist aber auch ein Signal an die Russen. Das Regime schwenkt auf den reinen Terror um. Früher versuchte Putin, die Russen auf seine Seite zu ziehen, sie mit den Mitteln des Staates zu „kaufen“. Jetzt, da der Hauptteil der russischen Ressourcen in den Krieg fliesst, bleibt ihm nur noch der Terror.

Als Regimekritikerin können Sie auch nicht mehr nach Russland reisen.Wie haben Sie Wladimir Putins Interview mit Tucker Carlson aus der Ferne erlebt?

Putin ist völlig in seiner paranoiden Logik gefangen – er verteidigte sogar Hitler mit der Behauptung, dieser sei von Polen 1939 zum Einmarsch in ihr Land gezwungen worden. Ziel des Auftritts war es, den US-Kandidaten Donald Trump zu stärken und nach einem Sieg über eine munitions- und waffenlose Ukraine die westlichen Sanktionen loszuwerden. Deshalb gibt er sich verhandlungsbereit. Wobei verhandeln für Putin einzig und allein heißt, die Bedingungen der ukrainischen Kapitulation festzulegen.

Wladimir Putins Sieg bei Wahl in Russland so gut wie sicher

Sicher scheint nur, dass Putin bei der Wahl in Russland im März wiedergewählt wird...

Ja, die Gouverneure haben offenbar Anweisung erhalten, seinen Sieg bei etwas mehr als 80 Prozent festzulegen. Die Russen stimmen elektronisch ab, und diese Prozedur dauert drei Tage – da besteht genug Zeit, das gewünschte Ergebnis herzustellen. Zugleich glaube ich allerdings, dass Putins Tage gezählt sind.

So zeigt sich der russische Machthaber Wladimir Putin in Moskau diese Woche bei einem Treffen mit Bürokraten.© AFP

Wie das?

Ich habe den Eindruck, dass wir den Anfang vom Ende seines Regimes erleben. Die Russ*innen sehen, wie sich die Probleme in ihrem Land anhäufen. Im Staatsapparat denken viele, dass Wladimir Putin das Land in die Mauer fährt. In Moskau beginnt meines Erachtens langsam die „Entputinisierung“. Die Umstände erinnern mich an das Ende Stalins 1953: Schon zu seinen Lebzeiten gab es eine Art verdeckter Entstalinisierung. Auch sonst gibt es Parallelen zum heutigen Regime Putins. Stalin war am Ende seines Lebens so paranoid, dass er einen Dritten Weltkrieg vorbereitete; er ließ Intellektuelle und Weltoffene verfolgen, betrieb die Militarisierung der Gesellschaft. Zugleich bereiteten die innersten Machtzirkel 1952 die Entstalinisierung vor. Was sich damals in Moskau abspielte, könnte sich heute wiederholen. Viele Indizien deuten auf die Dämmerung des Putinschen Regimes hin.

utins Rückhalt in Russland bröckelt

Welche denn?

Schauen Sie, was bei der Fahrt des Söldners Jewgeni Prigoschins nach Moskau passierte. Da war niemand, der Putin verteidigte. Oder nehmen Sie Valery Solowey, ein Professor aus dem Machtapparat, der seit langem deklariert, Putin sei schwer krank, und der eine Majestätsbeleidigung nach der anderen begeht. Erstaunlich ist nicht das, sondern dass er weiterhin in Freiheit ist. Er muss von hoher Stelle geschützt sein, sonst hätte er schon längst 20 Jahre Strafkolonie erhalten. Auch der – unterbundene – Präsidentschaftskandidat Boris Nadeschdin hat zweifellos die Rückendeckung eines „Kremlturms“, wie man die verschiedenen Machtfraktionen in Moskau nennt; sonst hätte er nicht wochenlang an Putins Stuhl sägen können. Sein Programm war eine einzige „Entputinisierung“: Es übt offen Kritik am Kurs des Präsidenten, es bezeichnet den Krieg in der Ukraine als Fehler und die Wendung nach Osten und China als Katastrophe. Dass Nadeschdin nicht zur Wahl zugelassen wird, zeigt die Angst im Kreml.

Wie könnte denn Putins Ablösung vonstatten gehen?

Im Kreml ändern sich die Machtverhältnisse meist durch Palastrevolutionen. Die Frage ist wann. Putin wird meiner Meinung nach nicht abgelöst, solange die Ostukraine nicht fest in der Hand Russlands ist. Denn die Nachfolger Putins wollen die Dreckarbeit nicht selber erledigen. Aber wenn das geregelt ist, wird Putin ersetzt, allein schon, um Europa zu gefallen und zu versuchen, die Sanktionen zu überwinden.

Hat Putin so ein persönliches Interesse, den Krieg hinzuziehen?

Natürlich will er die Ukraine ausmerzen, so wie Stalin mit der Hungerwaffe zwei Generationen der Ukraine vernichtete. Diesbezüglich herrscht in Moskau Konsens. Putin wird in seinem Land nicht kritisiert, weil der Krieg führt, sondern weil er es von Beginn weg falsch angepackt und den Auftakt zum Krieg verpatzt hat. Aber der Krieg und die Militarisierung des Landes sichern nebenbei auch seine eigene Stellung.

Françoise Thom ist Historikerin mit Schwerpunkt auf der Geschichte der Sowjetunion. Sie hat eine Biografie von Stalins Handlanger Lawrenti Beria verfasst und ist emeritierte Professorin der Sorbonne in Paris. rba© Bereitgestellt von FR

Putin-Propaganda in Russland funktioniert

Wie ist Putins Rückhalt in der Bevölkerung? Glauben die Russ*innen der permanenten Desinformation, die aus dem Krieg eine „Spezialoperation“ macht, aus Selenskyj einen „Nazi“ und aus Russland eine „von außen bedrohte Nation“?

Ja, ich glaube, die große Masse glaubt das. All die, die Fernsehen schauen, werden völlig erschlagen von der Propaganda. Die meisten sind überzeugt, dass der Westen Russland zerstören will. Nur eine kleine urbane Elite merkt, dass das pure Lügen sind, Fake News.

Ist Putin mit seiner schamlosen, systematischen Lügnerei in Moskau ein Einzelfall?

Keineswegs. Die Besucher Russlands staunten schon im 17. Jahrhundert, wie oft man in Russland lügt. Die russische Tradition ist messianisch, das heißt auch: auf Lügen aufgebaut. Solange Russlands Politiker ihr Land nicht als normale Nation ansehen, sondern sich von einer spirituellen Mission geleitet wähnen, die zu dominieren sucht, solange wird Russland in der Lüge verhaftet bleiben.

„Putin nutzt die deutschen Schuldgefühle seit dem Zweiten Weltkriegen sehr gut“

War Europa lange naiv?

Ja, aber aus unterschiedlichen Gründen. In Deutschland gibt es seit dem Vertrag von Rapallo von 1922 eine russophile Lobby. Die Wirtschaft mit Kanzler Schröder an der Spitze blieb es weitere hundert Jahre lang. Zudem vermochte Putin die deutschen Schuldgefühle seit dem Zweiten Weltkriegen sehr gut auszunützen. In Frankreich waren dagegen eher die Intellektuellen russophil, und zwar aus purem Antiamerikanismus. Dieses Relikt aus der Ära der Parti Communiste Français (KPF) ist immer noch sehr stark. Es wird unterstützt durch Politiker wie Nicolas Sarkozy, und genährt durch die russische Propaganda, laut der Frankreich nicht frei sei, sondern abhängig von den USA, wie ihr Pudel. Das sagte der russische Botschafter in Paris noch unlängst an einer Veranstaltung, der ich beiwohnte. Kritische Fragen zu stellen war unmöglich.

Als in Paris im Zuge der Hamas-Attacke vom 7. Oktober antisemitische Davidsterne an den Hausmauern auftauchten, stellte sich heraus, dass Russischsprachige dahintersteckten. Warum protestierte niemand gegen solche eklatanten Destabilisierungsversuche, der geschickt die Banlieue-Problematik schürt?

Die sozialen Medien haben den Russen zu einem sehr starken Hebel verholfen, um das demokratische Leben in Europa oder den USA zu verwirren und zu vergiften. Sie unterstützen bewusst Immigranten mit einer antikolonialen Rhetorik. Und dazu die extreme Rechte und Linke, zugleich also Marine Le Pen oder Sahra Wagenknecht. Die Absicht dahinter ist es für Moskau, das politische Zentrum in den Weststaaten auszulöschen und Konflikte zu provozieren. In den USA haben sie bereits dramatische Auswirkungen.

Putin will aus Russland die dominierende Macht Europas machen

Hätte ein Sieg von Donald Trump bei der US-Wahl für die Ukraine wirklich verheerende Folgen,?

Wahrscheinlich schon. Europa muss sich beeilen, der Ukraine zu helfen, sich für einen amerikanischen Ausfall zu wappnen. Das Schicksal der Ukraine wird immer mehr von Europa abhängen. Wir müssen erkennen, dass dieser Krieg für uns eine Frage von Leben und Tod ist, politisch gesprochen. Denn wenn sich Russland die Ukraine einverleiben kann, dann hätten wir ein bedrohliches, bis an die Zähne bewaffnetes Russland an unseren Grenzen. Ich glaube nicht, dass Putin das sowjetische Reich wiederherstellen will; ihm schwebt eher ein paneuropäisches Projekt vor, mit Russland als dominierender Macht. Das wäre brandgefährlich.

Wie ist die Wirtschaftslage in Russland?

Immer schlechter. Dem Land fehlt es an Ausrüstung, Maschinen und im Winter an Turbinen zum Heizen. Russland hat heute eine Kriegswirtschaft, der zivile Sektor wurde geopfert. Das riesige Agrarland produziert – und nicht nur, weil die Männer an der Front sind – nicht einmal mehr genug Eier; die müssen aus Aserbaidschan importiert werden. Alles in allem geht es der russischen Wirtschaft schlecht, wenn man vom Militärsektor absieht. Wie in Sowjetzeiten.

Glauben Sie, dass Putin jemals eine Atomwaffe zünden könnte?

Ich denke nicht. Putin handelt wie ein Schurke, der angreift, wenn er sich in einer starken Position wähnt, aber letztlich feig und ängstlich ist. Er weiß, dass Nuklearwaffen die rote Linie sind und den Westen zu einer Reaktion zwingen würden. Das will er nicht.

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