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Folgen des Brexit: EU-Bürger brauchen bald Reisepass für Großbritannien

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Großbritannien: Millionäre fliehen von der Insel

Großbritannien verliert anscheinend seine Anziehungskraft für wohlhabende Investoren und Geschäftsleute. Im vergangenen Jahr hat laut einem Medienbericht eine regelrechte Kapitalflucht aus dem Land eingesetzt.

Großbritannien: Millionäre fliehen von der Insel

Großbritannien: Millionäre fliehen von der Insel© Simon Dawson / REUTERS

Im Jahr 2022 verließen offenbar 1400 Personen, die über ein Vermögen von mehr als einer Million Dollar verfügen, Großbritannien. Das berichtet die britische Zeitung »The Times« unter Berufung auf eine Untersuchung des Beratungsunternehmens Henley & Partners. Experten gehen davon aus, dass derzeit etwa 737.000 Millionäre im Vereinigten Königreich leben.

Der jüngste Exodus setze einen Trend fort, der kurz nach dem Brexit-Votum im Jahr 2016 einsetzte. Seitdem hätten schätzungsweise 12.000 Millionäre die Insel verlassen, um sich anderswo niederzulassen. Unter ihnen befinden sich den Angaben zufolge Dutzende gut verdienender Banker, deren Arbeitgeber ihren Arbeitsplatz im Zuge des Brexits nach Europa verlegt hatten. Auch nach Einschätzung der Europäischen Bankenaufsicht seien Versetzungen aus London einer der Hauptgründe dafür, dass die Zahl der europäischen Banker mit einem Einkommen von mehr als einer Million Euro pro Jahr im Jahr 2021 um mehr als 40 Prozent gestiegen sei, berichtet die Zeitung weiter.

Großbritannien war einst ein Magnet für Wohlhabende, die den Rechtsstaat und relative politische Stabilität ebenso bevorzugen wie die zurückhaltende Regulierung. Außerdem liegt die Zeitzone nahezu ideal, um Geschäfte mit Mitarbeitern und Kunden auf der ganzen Welt abzuwickeln.

Doch inzwischen schienen sich die Nachteile der britischen Isolierung deutlich auszuwirken, schreibt die »Times«. »Jetzt, da die realen längerfristigen Folgen des Brexits zu spüren sind, beobachten wir eine verstärkte Bewegung von wohlhabenden britischen Bürgern, die ihren EU-Status zurückholen wollen, indem sie eine EU-Aufenthaltsgenehmigung oder eine Staatsbürgerschaft durch Investitionen erhalten«, sagte Stuart Wakeling, Leiter des Londoner Büros von Henley & Partners.

Während sich weltreisende Millionäre in der Vergangenheit im Vereinigten Königreich niederließen, schauen die meisten jetzt in den Nahen Osten und nach Asien. Nach Angaben von Henley & Partners verzeichneten die Vereinigten Arabischen Emirate im vergangenen Jahr den größten Zustrom von vermögenden Privatpersonen

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Brexit: Wer braucht schon diese Regeln

Die britische Regierung will 4.000 EU-Verordnungen übernehmen, abändern – oder ganz streichen. Parlamentarier, Verbraucherschützer und Gewerkschafter sind alarmiert.

Ein Supermarkt im englischen Sussex – auch Regeln für Lebensmittel könnten betroffen sein.

Ein Supermarkt im englischen Sussex – auch Regeln für Lebensmittel könnten betroffen sein.© Jose Sarmento Matos/​Bloomberg/​Getty Images

Wer in Europa den Kühlschrank öffnet und sich Essen nimmt, verlässt sich bei jedem Bissen auf die EU. In Großbritannien ist dies bald anders. Tausende EU-Verordnungen sollen nach einem neuen Gesetz bis Ende des Jahres entweder in britisches Recht übernommen werden – oder einfach verfallen. Das hat, so fürchten Branchenverbände, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, gravierende Konsequenzen. Zum Beispiel beim Essen: EU-Verordnungen regeln unter anderem, dass auf den Verpackungen steht, was in den Nahrungsmitteln eigentlich alles enthalten ist. Auch auf Allergene muss hingewiesen werden. Die Verordnungen regeln auch, dass Fleischprodukte nur nach genehmigten Verfahren dekontaminiert werden dürfen, dass Hühnchen zum Beispiel nicht mit Chlor behandelt werden. EU-Recht verpflichtet die Nahrungsmittelindustrie zu einem Minimum an Hygiene. In Großbritannien ist nun schlagartig unklar, welche dieser Verordnungen auf Dauer noch gelten sollen.

Entscheidend dafür ist, ob das sogenannte Retained EU Law Bill nach der Zustimmung im Unterhaus nun auch das Oberhaus passiert. Das Gesetz gibt der Regierung und den Ministerien das Recht, 4.000 im Land noch geltende EU-Verordnungen nach eigenem Gutdünken abzuändern und ins britische Recht zu übernehmen. Anderenfalls verfallen die Verordnungen Ende Dezember 2023.

Das neue Gesetz bezieht sich auf Verordnungen aus der Zeit der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. Dies sind Rechtsakte, die die EU erlässt und die in den Mitgliedsländern unmittelbar gelten. Auf einer Internetseite kann sich jeder anschauen, welche Verordnungen zur Debatte stehen. Sie sind nicht zu verwechseln mit den Gesetzen, die Großbritannien einbringen musste, um zum Beispiel EU-Richtlinien in nationales Recht umzusetzen und bei deren Umsetzung das Parlament eingeschaltet war.

Auch der neue Premier feiert die Abschaffung von EU-Recht als Brexit-Erfolg. Rishi Sunak versprach bereits bei seiner Kandidatur, EU-Vorschriften innerhalb von einhundert Tagen "in den Schredder" zu werfen. Der Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg nutzte dann seine Position als Wirtschaftsminister, um das umstrittene Gesetz auf den Weg zu bringen. In der Zeitung The Telegraph schrieb er, all die EU-Gesetze und Regulierungen stammten von einem EU-System, das ohnehin nicht funktioniere und Europa und den Rest der Welt nur ärmer mache. Die kostspieligen, wettbewerbs- und innovationsfeindlichen Regulierungen seien nur dazu da, bankrotte Unternehmen vor der Insolvenz zu bewahren. Sie seien Großbritannien von der EU aufoktroyiert worden. Kein Wort davon, dass das EU-Recht unter Mitwirkung britischer Vertreter in Brüssel konzipiert wurde. "Weil der Brexit uns Freiheit gibt, müssen wir unbedingt von diesem EU-Modell abweichen", sagte Rees-Mogg im Unterhaus.

Der ehemalige Vorsitzende der Rechtsabteilung der Regierung, Jonathan Jones, sagt indessen: "Bei dem Gesetz geht es um Ideologie und Symbolik und nicht um wirkliche Politik." Die Regierung habe sich nicht einmal Gedanken gemacht, welche der 4.000 Verordnungen sie übernehmen oder streichen wolle.

Einer der schärfsten Kritiker des Gesetzes ist der ehemalige Brexit-Minister David Davis. Er stört sich – wie so viele Gegner des Gesetzes – daran, dass sich die Regierung selbst die Macht einräumt, mit den Ministerien allein zu entscheiden, welche Verordnungen übernommen, verändert oder gekippt werden. Das Parlament wird nicht einbezogen. "Das war mit dem Brexit nicht geplant", schimpfte Davis vergangene Woche im Unterhaus. "Wir wollten die Souveränität, über unsere Gesetze entscheiden zu können, von Brüssel nach Westminister (in das britische Parlament, Anmerkung der Redaktion) zurückholen. Wir haben nicht gesagt, dass wir das an Whitehall (die Regierung und die Ministerien, Anmerkung der Redaktion) abgeben wollten." Das Gesetz sei undemokratisch. Die konservativen Parlamentarier stimmten unter Fraktionszwang zwar im Unterhaus mehrheitlich für das Gesetz. Es wird jedoch damit gerechnet, dass das Gesetz im Oberhaus auf erheblichen Widerstand stößt.

Nicht nur die Umgehung des Parlaments stört die Kritiker. Die EU-Verordnungen basieren auf rechtlich verankerten Prinzipien, zum Beispiel dem Prinzip, dass der Verschmutzer für die Kosten der Müllbeseitigung aufkommen muss. Da Großbritannien aus der EU ausgetreten ist, fürchten Gewerkschaften, Verbände und Nichtregierungsorganisationen, dass Verordnungen jetzt verändert werden, ohne dass klar ist, auf Basis welcher rechtlichen Prinzipien dies geschieht. Der Abgeordnete Rees-Mogg behauptet, all die Verordnungen seien eine kostspielige Last für Unternehmen und behinderten das Wirtschaftswachstum.

Gewerkschaften wie Unison argwöhnen, dass die Regierung auf diesem Weg auch die Arbeitnehmerrechte im Land zurückstutzen wolle. Umweltverbände fürchten Ähnliches für den Umweltschutz. Und die schottische Lebensmittelbehörde Food Standards Scotland warnte: "Das Gesetz kann erhebliche Lücken beim Verbraucherschutz aufreißen. Das Gesetz verwechselt unnötige Bürokratie mit Verbraucherschutz und zeigt, dass Verbraucherschutz jetzt offenbar eine geringere Rolle spielt als zur Zeit unserer Mitgliedschaft in der EU." Die Regulierungsbehörde, die für die Sicherheit am Arbeitsplatz zuständig ist, das British Safety Council, warnt: "Man kann durchaus einige Vorschriften verbessern. Aber die radikale Art, mit der die Regierung das Thema behandelt, setzt Unternehmen, Arbeitnehmer und die britische Öffentlichkeit der Gefahr aus, dass es künftig mehr Schäden, Unfälle und vor allem unnötige Änderungen geben wird."

Die Hoffnung in vielen Branchen ist nun, dass das Oberhaus das Gesetz abbremsen wird und die Ministerien ihre Arbeit bei der Anpassung der Verordnungen über die nächsten Jahre verteilen können. Dann wäre auch Zeit, die Wirtschaft, Verbände, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen anzuhören, zumindest mit Blick auf die wichtigen Verordnungen, um diese am Ende tatsächlich zu verbessern – vorausgesetzt, dass es der Regierung überhaupt darum geht und nicht nur um Brexit-Symbolik.

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DIHK nach drei Jahren Brexit: «Wirtschaftliches Desaster»

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Der Brexit ist nach Ansicht der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) sowohl für Großbritannien als auch die EU ein „wirtschaftliches Desaster“. Für deutsche Unternehmen herrsche weiterhin eine erhebliche Planungs- und Rechtsunsicherheit, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian zum dritten Brexit-Jahrestag der Deutschen Presse-Agentur. „So besteht die Gefahr von Handelskonflikten, weil Großbritannien sich vom EU-Austrittsabkommen distanziert.“

Die Flaggen von Großbritannien und der EU.

Die Flaggen von Großbritannien und der EU.© Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

Insbesondere die britischen Pläne, von EU-Regeln abzuweichen, etwa beim Datenschutz oder bei Lebensmitteln seien eine Belastung für deutsche Unternehmen, sagte Adrian weiter. Dies sei auch in den Handelszahlen zu beobachten: „Während Großbritannien im Jahr 2016 noch drittwichtigster Exportmarkt Deutschlands war, ist das Land im Jahr 2022 auf Platz acht abgerutscht.“

Am 31. Januar 2020 war Großbritannien nach 47 Jahren Mitgliedschaft aus der EU ausgetreten. Laut DIHK haben deutsche Unternehmen mehr als 2100 Niederlassungen in Großbritannien und beschäftigen mehr als 400.000 Mitarbeiter. Britische Unternehmen wiederum hätten in Deutschland 1500 Niederlassungen und knapp 300.000 Mitarbeiter. „Es steht für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals viel auf dem Spiel“, sagte Adrian.

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EU und Briten einigen sich auf neue Nordirland-Regeln

Drei Jahre nach dem Brexit haben sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Rishi Sunak auf eine Anpassung des Nordirland-Protokolls verständigt. Ist jetzt endlich alles gut?

Einigung in Windsor: Der britische Premier Rishi Sunak und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (re.)

Einigung in Windsor: Der britische Premier Rishi Sunak und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (re.)© DAN KITWOOD/AFP

Der Durchbruch ist gelungen, der britische Premier Rishi Sunak erleichtert. Seit einem Jahr verhandeln die britische Regierung und die EU-Kommission über die Anpassung der Nordirland-Regeln - auch wenn die Beziehungen zwischen London und Brüssel drei Jahre nach dem Brexit an einem Tiefpunkt angelangt waren.

"Wir hatten Differenzen in der Vergangenheit, aber wir sind Alliierte, Handelspartner und Freunde. Ein neues Kapitel beginnt jetzt", sagte Sunak in Windsor bei London.

Rishi Sunak ist der vierte Premier des Vereinigten Königreiches, der versucht, die Brexit-Regeln für den Landesteil Nordirland mit der Europäischen Union in eine für beide Seiten praktikable Form zu bringen.

Sein Vorvorgänger Boris Johnson hatte dem sogenannten Nordirland-Protokoll im Austrittsvertrag aus der EU zunächst zugestimmt. Als in Nordirland Widerstand gegen die Handelsregeln aufkam, legte Johnson jedoch dann ein Gesetz vor, das die Regeln einseitig ändern sollte.

Die EU reagierte verschnupft auf diesen Rechtsbruch und drohte mit Konsequenzen. Boris Johnson musste vor Verabschiedung des Gesetzes seinen Posten räumen. Sein Gesetz lag seitdem auf Eis.

Streitpunkt Grenze: Jahrelang wurde um eine praktikable Lösung gerungen

Streitpunkt Grenze: Jahrelang wurde um eine praktikable Lösung gerungen© Getty Images/AFP/P. Faith

Was ist das Kernproblem?

Nach dem Brexit 2020 blieb Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört, und an das EU-Mitglied Irland grenzt, im EU-Binnenmarkt. Damit sollte ein reibungsloser Warenverkehr zwischen Irland und Nordirland gewährleistet werden. Personen- und Zollkontrollen an der sensiblen Grenze sollte es auf keinen Fall geben.

Man befürchtete ein Wiederaufbrechen des Konflikts zwischen protestantischen Unionisten, die zu Großbritannien gehören wollen, und katholischen Nationalisten, die eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland wünschen.

Der Konflikt, der in einen Art Bürgerkrieg ausartete, wurde vor 25 Jahren durch das "Karfreitagsabkommen" beigelegt. Nordirland sollte seitdem von einer Regierung aus Unionisten und Nationalisten immer gemeinsam regiert werden.

Durch den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU entstand auf einmal eine Grenze für Waren, die aus Großbritannien nach Nordirland, also in das Wirtschaftsgebiet der EU, eingeführt werden. Diese imaginäre Zollgrenze in der Irischen See erfordert großen bürokratischen Aufwand und viele Kontrollen in nordirischen Häfen und Flughäfen.

"Wenn man über Grenzkontrollen redet, entweder zwischen Großbritannien und Nordirland oder zwischen Irland und Nordirland, gerät man sofort in die existierende Spaltung innerhalb Nordirlands", meint Lisa Claire Whitten, Politologin an der Queen's University in Belfast, der Hauptstadt Nordirlands. "Für die Politik und die Regierungsstrukturen war der Brexit-Vertrag eine Belastung. Er hat die Spaltung zwischen Unionisten und Nationalisten vertieft."

Was regelt das reformierte Nordirland-Protokoll?

Nun sollen Handelsbeschränkungen abgebaut werden. Die EU stimmt zu, dass Waren, die künftig aus Großbritannien nach Nordirland exportiert werden und dort bleiben, also nicht über Irland weiter in die EU gelangen, weit weniger Kontrollen unterliegen. Nur Waren, die von Großbritannien über Nordirland weiter in die EU geschafft werden, müssen weiter eine Zollabfertigung und Kontrollen durchlaufen.

"Wir haben jeden Anschein einer Grenze in der Irischen See abgeschafft", freute sich der britische Premier. "Käse und Kartoffeln sind zurück", so Rishi Sunak. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versicherte, in den Regalen der Supermärkte in Großbritannien und Nordirland sollen wieder die gleichen Waren zu finden sein wie vor dem Brexit.

Freude bei EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen:

Freude bei EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen:© Dati Bendo/EU

Die juristische Aufsicht über Handelsangelegenheiten hat aber nach wie vor der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Das Mitspracherecht der nordirischen Regionalregierung in der EU bleibt stark eingeschränkt. Die Regeln werden in Brüssel gemacht.

Viele nordirische Politiker betrachten dies als ein Defizit an Demokratie. Die Regierung in Belfast soll aber eine "Notbremse" in die Hand bekommen, mit der die Ausführung neuer Handelsregeln verzögert werden könnte. Diese Notbremse könnte von der britischen Zentralregierung in London wieder aufgehoben werden.

Konfliktherd Nordirland: Nach dem Angriff auf einen Polizisten sind forensische Ermittler auf Spurensuche

Konfliktherd Nordirland: Nach dem Angriff auf einen Polizisten sind forensische Ermittler auf Spurensuche© Liam McBurney/PA via AP/picture alliance

Ist das Problem jetzt gelöst?

Die EU ist der britischen Regierung ein großes Stück entgegengekommen. Premierminister Rishi Sunak muss diesen Erfolg jetzt den eigenen hartgesottenen Brexit-Befürwortern in seiner konservativen Partei verkaufen.

Ebenso muss der Premier die nordirische Unionistenpartei DUP überzeugen. Die DUP hat die imaginäre Grenze in der Irischen See zu einer Frage der Identität erhoben und weigert sich deshalb, mit der nationalistischen pro-irischen Partei Sinn Fein eine gemeinsame Regierung zu bilden.

Das nordirische Parlament ist ebenfalls blockiert. Die DUP hat angekündigt, sie müsse sich den Kompromiss zwischen der EU-Kommission und dem Premierminister erst einmal genau anschauen. Rishi Sunak will sich "zu gegebener Zeit" mit dem neuen Nordirland-Protokoll einer Abstimmung im Unterhaus in London stellen.

"Seine Partei hat kein Interesse an pragmatischen Lösungen, sondern zieht pure Brexit-Ideologie vor. Dieser Brexit-Appetit könnte wieder angefacht werden. Und Boris Johnson wartet bereits in der Kulisse", schrieb Sydney Nash in der Zeitung "Guardian". Sydney Nash hat früher selbst für die Regierung am Brexit-Abkommen gearbeitet. Er glaubt, dass sogar der Stuhl von Rishi Sunak wackeln könnte.

Proteste gegen London: Brexit-Gegner demonstrieren in Belfast anlässlich des Besuchs von Premier Johnson im Juli 2019

Proteste gegen London: Brexit-Gegner demonstrieren in Belfast anlässlich des Besuchs von Premier Johnson im Juli 2019© AFP/P. Faith

Welche Auswirkungen hat das neue Abkommen?

Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU in Brüssel könnten sich normalisieren. Das Vereinigte Königreich hätte zum Beispiel die Chance, wieder am Wissenschafts-Förderprogramm "Horizon" der EU teilzunehmen, was britische Universitäten gefordert hatten.

Premier Sunak, ein ehemaliger Goldman Sachs Bankier, hofft darauf, dass sich auch das Klima für Investoren aus dem Ausland verbessert, die dann endlich Rechtssicherheit haben. Außerdem sollen die Beziehungen zum großen Verbündeten USA entspannter werden. Die US-Regierung legt großen Wert auf ein friedliches Nordirland.

US-Präsident Bill Clinton hatte vor 25 Jahren das Karfreitags-Abkommen vermittelt. Am 10. April jährt sich das Abkommen. Bis dahin wollte Premier Sunak das Thema vom Tisch haben. Wenn dies der Fall wäre, könnte US-Präsident Joe Biden im April zu einem Staatsbesuch nach London kommen.

Auch das Verhältnis zwischen London und Paris könnte besser werden. Großbritannien und Frankreich streiten seit dem Brexit um Fischfang und Flüchtlinge im Ärmelkanal. Rishi Sunak will im März den französischen Präsidenten Emmanuel Macron treffen, um auch diese Probleme auszuräumen.

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Großbritannien: Leere Gemüseregale: Was dem Brexit-Land bald fehlen könnte

Erst fehlten die Lastwagenfahrer, dann die Eier, nun die Tomaten. Während in Deutschland bloß vorübergehend in der Pandemie mal Nudeln oder Klopapier ausgingen, ist die Mangelwirtschaft in Großbritannien mittlerweile keine Seltenheit mehr. Schilder mit der Aufschrift „Three items per customer“ („Drei Stück pro Kunde“) prangten zuletzt an vielen Gemüseregalen in britischen Supermärkten. Experten spekulieren schon, was als nächstes knapp werden könnte.

Ein Mann steht vor einem leeren Gemüseregal in einem Supermarkt in Manchester.

Ein Mann steht vor einem leeren Gemüseregal in einem Supermarkt in Manchester.© Jon Super/XinHua/dpa

Was schon alles gefehlt hat

Im Herbst 2021 waren die Tankstellen zeitweise ohne Benzin. Ein Jahr später wurden die Eier und Weihnachtstruthähne knapp. Außerdem mangelt es an allen Ecken und Enden an Arbeitskräften, vor allem in Dienstleistungsberufen und der Gastronomie. Nun fehlt also auch das Gemüse - und das nicht zum ersten Mal. Nachdem die Brexit-Regeln erstmals in Kraft traten, klafften ebenfalls Lücken in den Regalen.

Woran das liegt

Die Ursachen für den Mangel sind vielfältig: Das Benzin fehlte damals vor allem, weil nach Brexit und Pandemie nicht mehr genug Lastwagenfahrer da waren, die den Sprit von A nach B fuhren. Bei Eiern und Truthähnen waren enorm viele Ausbrüche der Vogelgrippe dafür verantwortlich, dass viele Tiere getötet wurden. Beim Gemüse müssen sich die Briten hinten anstellen, weil die Ernte dürre- oder wetterbedingt geringer ausfiel als üblich.

„Der Brexit ist ein Verstärker“, sagt der Chef der Deutsch-britischen Industrie- und Handelskammer (AHK) in London, Ulrich Hoppe, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Es sei schwieriger und teurer geworden, ins Vereinigte Königreich zu exportieren. Wenn die Nachfrage das Angebot übersteige, seien andere Länder zuerst dran. Was den Fachkräftemangel angehe, sind die Hürden für ausländische Arbeitskräfte durch Visa-Regeln höher geworden.

Was als nächstes fehlen dürfte

Fragt man Insider, was als Nächstes knapp werden könnte, kommen gleich mehrere Vermutungen. Der Handelsverband British Retail Consortium hält wegen schlechter Ernten in den Anbauregionen Engpässe beim Olivenöl für möglich - genauso wie der britisch-deutsche Ökonom Andrew Lee, der an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg lehrt und zusätzlich noch importierten Käse auf die Liste der möglichen gefährdeten Waren setzt.

Bei zu erwartenden zunehmenden Extremwetterereignissen werde jeder Schock in den Lieferketten Großbritannien härter treffen als EU-Länder, so Lee im Gespräch mit der dpa. „Großbritannien kann dann zwar mehr Cheddar verkaufen, aber ob das das Ausbleiben der EU-Käse-Importe ausgleichen kann, ist fraglich - und ob die Kunden nur britischen Käse essen wollen, ist eine ganz andere Frage.“

Der Bauernverband National Farmers Union rechnet außerdem damit, dass die Engpässe bei Tomaten und Gurken bleiben, da auch die Ernte der heimischen Sorten über die Jahre hinweg immer dünner ausfalle. Die Bauern gehen davon aus, dass sich bei Tomaten und Gurken die Saison 2022 nach finaler Auszählung als jene mit der niedrigsten Ausbeute seit Beginn der Aufzeichnungen vor fast 40 Jahren herausstellen wird. Bei Birnen und Paprika sieht die Tendenz ähnlich aus. „Die Lebensmittelsicherheit in Großbritannien ist vorbei. Die Regierung muss das ernst nehmen“, sagte der Vize-Präsident des Verbandes, David Exwood.

Warum sich das erstmal nicht ändern dürfte

Dafür gibt es mehrere Gründe - einer davon ist der Brexit. Experte Hoppe von der Außenhandelskammer schätzt, dass Großbritannien dadurch immer etwa 10 bis 15 Prozent stärker betroffen ist als EU-Länder. „Der Brexit hat das Risiko des Auseinanderbrechens von Lieferketten erhöht“, meint er. Bislang weist die britische Regierung die Idee, eines Tages zumindest dem EU Binnenmarkt wieder beizutreten, weit von sich. Zudem sorgen durch den Klimawandel verstärkte Dürren und andere Extremwetterereignisse dafür, dass Bauern häufiger arge Probleme mit ihren Ernten haben.

Auch Deutschland wird nicht ganz verschont bleiben

Von den Auswirkungen des Klimawandels und weltweiter Störungen der Lieferketten - etwa durch Sanktionen oder Konflikte - bleibt auch Deutschland nicht verschont. Auch als in Großbritannien die Fernfahrer rar waren, wiesen Branchenverbände darauf hin, dass in Deutschland ebenso Zehntausende Kräfte fehlen und sich der Mangel noch verstärken werde. Durch die zusätzlichen Hürden zeigt sich in Großbritannien häufig bloß wie unter dem Brennglas, in welchen Bereichen es später auch anderswo hapern könnte.

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Großbritannien: Vom Brexit-Land zum Schurkenstaat

Großbritannien: Vom Brexit-Land zum Schurkenstaat

Ein Demonstrant hält ein Plakat mit der Aufschrift „Asylsuche ist ein Menschenrecht“. In Großbritannien protestieren immer wieder Menschen gegen Rassismus und das Gesetz der konservativen Regierung.

Ein Demonstrant hält ein Plakat mit der Aufschrift „Asylsuche ist ein Menschenrecht“. In Großbritannien protestieren immer wieder Menschen gegen Rassismus und das Gesetz der konservativen Regierung.© IMAGO/ZUMA Wire

Die britischen Konservativen wollen internationales Recht brechen, um Geflüchtete wieder loszuwerden. Da regt sich sogar in ihren eigenen Reihen Widerstand.

Einst wehte in Großbritannien ein anderer Wind. In den 90er Jahren wurden Menschenrechte im Vereinigten Königreich als wesentlich angesehen und daher beschloss die Labour-Regierung unter Tony Blair den „Human Rights Act 1998“. Seither gelten universelle Rechtsansprüche, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten sind, ausdrücklich auch in Großbritannien. Es war der konservative Premierminister Winston Churchill, der sich für die Konvention eingesetzt hatte, als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg.

Doch die Torys sind nicht mehr Churchills Partei. In einem Bericht stellte Human Rights Watch jüngst fest, dass die Partei „wiederholt versucht hat, den Schutz der Menschenrechte zu schädigen und zu untergraben“. Die Liste der aufgeführten Probleme ist lang, darin erwähnt werden der unzureichende soziale Schutz für britische Staatsangehörige mit niedrigen Einkommen wie auch der für Geflüchtete.

Jüngstes Beispiel dieses Trends, der seit dem Brexit durch den Einfluss rechter Hardliner in der Partei weiter an Tempo gewonnen hat, ist die „Illegal Migration Bill“. Dieser Gesetzesentwurf, welchem am Mittwoch vergangener Woche eine Mehrheit der Abgeordneten nach der dritten Lesung vor dem Unterhaus zustimmte, sieht vor, dass irreguläre Einwanderinnen und Einwanderer, die mit kleinen Booten über den Ärmelkanal kommen, in Lagern interniert und dann auf schnellstem Wege in als sicher deklarierte Länder wie Ruanda ausgeflogen werden sollen – auch gegen einen Einspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Laut dem Deal zwischen dem ostafrikanischen Land und Downing Street sollen die Geflüchteten dort auch in Camps unterkommen.

Diese Pläne sorgten in den vergangenen Wochen nicht nur bei der Opposition, Flüchtlingsorganisationen und den Vereinten Nationen für Entsetzen, auch innerhalb der Torys regte sich teils erbitterter Widerstand. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox, eigentlich ein überzeugter Brexiteer, stellte klar, dass das Kabinett Sunak von den Abgeordneten offenbar erwarte, gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Ex-Regierungschefin Theresa May äußerte ebenfalls offen Kritik. Eine Rebellion der moderaten Kräfte innerhalb seiner Partei konnte Premierminister Rishi Sunak nur abwenden, indem er Zugeständnisse machte. So sollen nun zumindest geflüchtete Kinder besser geschützt werden.

Dass die „Illegal Migration Bill“ in ihrer jetzigen Form verabschiedet werde, sei jedoch höchst unwahrscheinlich, betonte Joelle Grogan von der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“. Denn im Oberhaus, wo der Gesetzesvorschlag jetzt gelandet ist, werde es viel Widerstand geben. Dabei gehe es nicht nur darum, dass das Gesetz gegen internationale Normen verstößt, weil den Menschen das Recht auf Asyl verwehrt wird, es sei auch fraglich, wie die „Bill“ praktisch funktionieren soll. „Das Innenministerium wäre zwar verpflichtet, Personen abzuschieben, die illegal eingereist sind, aber es ist gar nicht klar, wohin sie gehen sollen.“ In die EU zurück könnten sie nicht und außer Ruanda gebe es keine weiteren angeblich sicheren Drittstaaten, so Grogan.

Das Oberhaus wird Probleme oder Änderungen erörtern und die „Illegal Migration Bill“ dann wieder ans Unterhaus zurückspielen. Dieses „Ping Pong“ zwischen beiden Kammern kann sich Wochen oder gar Monate hinziehen. Grogan glaubt, dass das Sunak bestens passt. Der wolle nämlich zunächst insbesondere bei den Lokalwahlen Anfang Mai punkten. Schließlich ist Migration Umfragen zufolge eine der größten Sorgen unter jenen, die 2019 ihr Kreuz für die Torys machten.

Doch auch wenn Sunak durch die „Illegal Migration Bill“ kurzfristig die Muskeln spielen lässt; die Abkehr von internationalen Normen ist ein Spiel mit dem Feuer. Denn dass der Entwurf vorsieht, die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ignorieren, vergiftet wieder die fragilen Beziehungen zur EU. Und weil das Gesetz vermutlich im Oberhaus scheitert, könnten die Torys nicht nur herzlos und brutal wirken, sondern auch unfähig.

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„Der Brexit ist gescheitert“

London. Er war einer der treibenden Politiker hinter dem britischen EU-Austritt - doch von dem Ergebnis zeigt sich Nigel Farage inzwischen bitter enttäuscht. „Der Brexit ist gescheitert“, sagte der Rechtspopulist der BBC.

Nigel Farage verlässt am 29. Januar 2020 das EU-Parlamentsgebäude in Brüssel.

Nigel Farage verlässt am 29. Januar 2020 das EU-Parlamentsgebäude in Brüssel.

Aus seiner Sicht würde es dem Land zwar auch in der EU nicht besser gehen. Allerdings habe das Vereinigte Königreich bisher wirtschaftlich nicht von dem historischen Schritt profitiert. Die Schuld dafür gab er der regierenden Konservativen Partei, die nicht geliefert habe, so der frühere Chef der Ukip-Partei.

Ein Regierungssprecher wies die Vorwürfe am Dienstag zurück. Als Beispiel nannte er angebliche Vorteile für die Landwirtschaft. „Wir haben ein gerechteres System, das auf die britischen Landwirte nach dem Brexit zugeschnitten ist.“

Farage hatte am Montagabend gesagt: „Der Brexit hat gezeigt, dass unsere Politiker genauso nutzlos sind wie die (EU-)Kommissare in Brüssel. (...) Wir haben das völlig falsch gemanagt.“ So sei etwa das Versprechen einer stärkeren Einwanderungskontrolle nicht eingehalten worden, sagte er.

Vor einigen Jahren hatte Farage angekündigt, er werde Großbritannien verlassen, falls der Brexit nicht funktioniere. In sozialen Medien wurde nun spöttisch seine Auswanderung erwartet.

Farage war gemeinsam mit Boris Johnson einer der lautstärksten Verfechter des EU-Austritts. Kritiker werfen den Politikern vor, ihren Wahlkampf vor dem Brexit-Referendum 2016 auf Lügen und falschen Angaben aufgebaut zu haben. Nach Einschätzung von Analysten sowie von Behörden hat der Brexit der britischen Wirtschaft enorm geschadet.

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Splendid Isolation? Sieben Jahre Brexit

Im Juni 2016 kam aus London eine Nachricht, die die EU erschütterte: Die Briten wollten die Union verlassen. Und heute? Von welcher Seite man es auch betrachtet: Eine Erfolgsgeschichte ist der Brexit bislang nicht.

Der Union Jack vor der Uhr am Big Ben, die 23:00 Uhranzeigt - der Moment, in dem der Brexit vollzogen wird

Der Union Jack vor der Uhr am Big Ben, die 23:00 Uhranzeigt - der Moment, in dem der Brexit vollzogen wird© Toby Melville/REUTERS

In ganz Großbritannien hält eine Mehrheit den Brexit mittlerweile für eine schlechte Idee. In ganz Großbritannien? Nein, in einem Wahlkreis sind nach wie vor die meisten der Meinung, der EU-Austritt sei richtig. Am Freitag (23. Juni) ist es sieben Jahre her, dass Großbritannien für den Brexit votierte - mit knapper Mehrheit. Nicht in Boston in der Grafschaft Lincolnshire: Hier stimmten rund 76 Prozent mit Ja. Und während in Umfragen die Zustimmung zuletzt auf ein Tief sank, untermauert Boston seinen Status als Brexit-Hochburg..

Nein, gesteht Ex-Bürgermeister Anton Dani und bläst die Backen auf, so habe er sich den Brexit nicht vorgestellt. "Die Realität ist vermutlich schlimmer, als wir es damals erwartet haben", sagt der 57-Jährige. Es klingt vernichtend.

Aber das trügt. Der Gedanke, sich unabhängig von "Brüssel" um seine Probleme und Chancen kümmern zu können, in der gern beschworenen "Splendid Isolation" also, ist immer noch populär. Der ehemalige Bürgermeister der ostenglischen Kleinstadt hält den Brexit noch immer für eine gute Idee. Er werde nur von der Regierung in London völlig falsch umgesetzt. So wie Dani fühlen viele Menschen in Boston.

Hohe Gasrechnungen - wenig Lebensmittel: Für britische Verbraucher war die erste Zeit des Brexit sehr hart

Hohe Gasrechnungen - wenig Lebensmittel: Für britische Verbraucher war die erste Zeit des Brexit sehr hart© Kirsty O'connor/PA/dpa/picture alliance

Was wurde aus den Brexit-Versprechen?

Im Kirchen-Shop in der Altstadt bedienen Wendy und Jeanne die Touristen. Sind sie denn noch für den Brexit? Aber natürlich, betonen die beiden älteren Damen freundlich. Der Grund: die vielen Fremden, die in den vergangenen Jahren nach Boston gezogen sind. "Alleine traue ich mich abends nicht mehr in die Stadt", sagen sie. So wie sie denken viele.

"Die Realität gibt ihnen mehr Gründe, gibt ihnen mehr Beweise dafür, dass sie den Brexit wirklich brauchen", sagt Ex-Bürgermeister Dani. Strengere Einwanderungsregeln hatten die Befürworter des EU-Austritts versprochen - in Boston warten sie noch immer darauf.

"Unsere Stadt ist Schrott"

Langsam reicht es den Leuten in Lincolnshire. Einst eine blühende Hafenstadt, gab es in den vergangenen Jahren kaum eine Negativ-Statistik, die Boston nicht angeführt hätte. Es ist die Stadt mit der schlechtesten Integration und den niedrigsten Löhnen - und die mit den statistisch meisten Morden. Viele Leute weisen auf den hohen Zuzug von Migranten hin. Es seien vor allem Menschen aus ärmeren EU-Staaten, die sich tagsüber in Grüppchen auf dem Marktplatz aufhielten, wird in den Pubs erzählt. "Viele haben den Eindruck, dass sie fremd sind in der eigenen Stadt", sagt Dani.

Es würden keine Sprachkurse angeboten, keine Schulen gebaut, keine Lehrer eingestellt. Stattdessen würden das Klinik-Angebot und die Zahl der Nachbarschaftsbeamten verringert. Illegale Müllentsorgung nehme ebenso zu wie Ladendiebstahl oder Drogenhandel. "Unsere Stadt war hübsch", sagt Dani. "Schau sie dir an, jetzt ist sie Schrott" Für den Ex-Bürgermeister ist klar: Die Lösung könne nur "mehr Brexit" heißen.

Fahrermangel, Corona-Einschränkungen, Brexit-Folgen: Auch in Lincolnshire war Benzin 2021 ein rares Gut

Fahrermangel, Corona-Einschränkungen, Brexit-Folgen: Auch in Lincolnshire war Benzin 2021 ein rares Gut© LINDSEY PARNABY/AFP

Großbritannien verliert an Bedeutung

Auf dem Kontinent zieht die deutsche Wirtschaft zum siebten Jahrestag der Brexit-Abstimmung aus ganz anderen Gründen eine düstere Bilanz: "Der Brexit ist ein wirtschaftliches Desaster für beide Seiten des Kanals", sagte der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Volker Treier, am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters. "Das ist die Bilanz nach sieben Jahren Brexit-Referendum."

Ablesen lassen sich die Folgen beispielsweise am Handel zwischen beiden Ländern. 2022 exportierte Deutschland Waren im Wert von 73,8 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich und damit 14,1 Prozent weniger als 2016, dem Jahr des Brexit-Votums. "Während Großbritannien im Jahr 2016 noch drittwichtigster Exportmarkt Deutschlands war, ist das Land im Jahr 2022 auf Platz acht abgerutscht", sagte Treier. Als Handelspartner - in dieser Bilanz werden Ex- und Importe zusammengezogen - habe das Land seitdem sogar noch mehr an Bedeutung verloren und sei von Platz fünf auf Platz elf abgesackt.

Schwieriges Verhältnis: Französische Fischer blockieren 2021 britische Fischboote im Hafen von Jersey

Schwieriges Verhältnis: Französische Fischer blockieren 2021 britische Fischboote im Hafen von Jersey© Oliver Pinel/AP/picture alliance

Standbeine in der Union

Auch der Bestand deutscher Direktinvestitionen in Großbritannien hat abgenommen. 2021 lag er noch bei rund 140 Milliarden Euro, was einem Rückgang von 16,1 Prozent im Vergleich zu 2016 entspricht. Ebenso sind dem DIHK zufolge mit 2163 deutschen Unternehmen mittlerweile 5,2 Prozent weniger dort aktiv als 2016. Die Zahl ihrer Beschäftigten sei um drei Prozent auf 415.000 gesunken.

Dafür haben sich in den vergangenen Jahren viele britische Unternehmen neu in Deutschland niedergelassen. Die für das Standortmarketing der Bundesrepublik zuständige Germany Trade and Invest (GTAI) zählte seit dem Brexit-Votum mehr als 1000 Neuansiedlungen. Allein im vergangenen Jahr waren es 170 - eine Zahl, die nur von den USA und der benachbarten Schweiz übertroffen wurde.

"Wir gehen davon aus, dass die Anfragen aus UK auf hohem Niveau bleiben werden", sagte GTAI-Geschäftsführer Robert Hermann. "Für britische Unternehmen ist es wichtig, ein Standbein in der EU zu haben." Für Deutschland spreche dabei die Größe. Auch die zentrale Lage in Europa sei von Vorteil.

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Ohne Europas Regulierungswut – Großbritannien will zum KI-Zentrum werden

Das EU-Parlament hat das erste globale KI-Gesetz verabschiedet. Brüssel will damit die Zukunftstechnologie regulieren. In London wittert man darin eine Chance. Premier Sunak will nun mit einer geschickten Positionierung erreichen, dass Firmen sich auf der Insel ansiedeln, anstatt in Europa.

Technologie im Fokus in der Downing Street Number (010)10(111) AP

Technologie im Fokus in der Downing Street Number (010)10(111) AP© Bereitgestellt von WELT

Den amerikanischen Hang zum Pathos hatte der britische Premier Rishi Sunak nach seiner zuvor abgeschlossenen Reise in die USA noch verinnerlicht, als er Mitte Juni auf der größten britischen Tech-Konferenz in London sprach. Großbritannien wolle „nicht nur die intellektuelle, sondern auch die geografische Heimat rund um Sicherheit in der Künstlichen Intelligenz“ (KI) werden, verkündete der Konservative feierlich in seiner Rede.

Der Premier leitete damit eine Kehrtwende in der britischen KI-Politik ein. Bisher war Großbritannien für seine nachgiebige Haltung in Sicherheitsfragen zugunsten des wirtschaftlichen Wachstums bekannt. Der Wendepunkt folgte auf den neuen Ton in der globalen Debatte.

Besonders der Hype um den Chat-Bot ChatGPT hat in den vergangenen Monaten das Bewusstsein für das revolutionäre Potenzial von Künstlicher Intelligenz und die damit verbundenen Gefahren geschärft. ChatGPT generiert mithilfe von KI Texte und kommuniziert menschenähnlich mit den Nutzern. Dabei lernt es ständig dazu.

Führende Wissenschaftler und Chefs der größten Tech-Unternehmen machten öffentlich auf die existenziellen Risiken einer unkontrollierten KI aufmerksam, etwa in einem offenen Brief unter der Schirmherrschaft des Center for AI Safety, einem Forschungsinstitut für Sicherheit der Künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence, AI) in San Francisco.

Angesichts dieser Entwicklung und der wachsenden Kritik, dass Großbritannien ohne Investitionen und staatliches Handeln im „Wettlauf um KI“ abgehängt werden könnte, traf Sunak eine neue Strategieentscheidung. Wer führend in dieser Technologie werden wolle, müsse auch Vorreiter in KI-Sicherheit werden, sagte der Premier in London.

Großbritannien hat einiges aufzuholen, insbesondere im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn. Innerhalb der Europäischen Union wird seit Jahren über die Eindämmung der potenziellen Risiken von KI diskutiert. Im Juni hat das EU-Parlament über das erste globale KI-Gesetz abgestimmt. Mit diesem Regelwerk erhofft sich die EU einen „Brüssel-Effekt“, ähnlich wie bei der seit 2018 geltenden Datenschutzgrundverordnung, die weltweit als Vorbild für eigene Regelwerke genommen wurde.

Brüssel wagt mit dem Gesetz einen Balanceakt. Das Ziel ist ebenfalls eine Vorreiterrolle in KI-Sicherheit, gleichzeitig sollen innovative Firmen nicht durch übermäßig strenge Regeln abgeschreckt werden. Dass diese Gefahr besteht, zeigte sich zuletzt im Mai kurz vor der Abstimmung über das Gesetz: Sam Altman, Gründer des amerikanischen Unternehmens OpenAI, das ChatGPT entwickelt hat, hatte angedeutet, sich aus dem europäischen Markt zurückzuziehen, sollte das Gesetz zu streng ausfallen. Später ruderte er zurück.

Chance für Großbritannien

Hier sehen KI-Wissenschaftler eine Chance für Großbritannien. Die Insel „positioniert sich ideologisch zwischen den USA mit ihrem freien Marktansatz und Kontinentaleuropa, das einen interventionistischen Ansatz verfolgt“, erklärt Anton Korinek, Wissenschaftler bei der amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution und Unterzeichner des offenen Briefs des Center for AI Safety. Damit befände sich Großbritannien „strategisch genau am richtigen Platz“.

Wie Großbritanniens Strategie konkret aussehen könnte, darüber informiert nur ein im März veröffentlichtes White Paper der Regierung, das Kritiker aufgrund der rasend schnellen KI-Entwicklung inzwischen schon als „aus der Zeit gefallen“ bezeichnen. London will demnach „eine übermäßig strenge Gesetzgebung, die Innovationen behindern könnte“, vermeiden, und „stattdessen einen anpassungsfähigen Ansatz für die Regulierung von KI verfolgen“.

Statt eine einzelne Regulierungsbehörde zu schaffen, will die Regierung bestehende Stellen für diesen Zweck koordinieren. Dadurch soll ein Ansatz entwickelt werden, der sich nach dem spezifischen Einsatz von KI in verschiedenen Branchen richtet.

Großbritannien rückt damit KI-Sicherheitsfragen zwar stärker in den Fokus, die EU geht jedoch deutlich weiter. Deren Gesetz soll einen Rahmen schaffen, um KI-Technologien entsprechend ihres Risikos in verschiedene Kategorien einzustufen.

Anwendungen, die eine Bedrohung für die menschliche Sicherheit darstellen, wie eine umfangreiche Kontrolle des Alltagsverhaltens, sollen verboten werden. EU-Parlamentarier haben sich darauf geeinigt, ChatGPT und ähnliche Programme nicht grundsätzlich als risikoreich einzustufen. Dennoch werden Anbieter zukünftig Transparenzanforderungen erfüllen müssen. Dazu gehört die Offenlegung der Datenquellen, die zur Entwicklung ihrer Modelle verwendet werden.

Kleine Unternehmen müssen kämpfen

Insbesondere für kleine Unternehmen könnte die Umsetzung schwierig werden. „Die US-Digitalkonzerne kommen mit jeder Regulierung klar“, erklärt Daniel Abbou, Geschäftsführer des Bundesverbands Künstliche Intelligenz in der „Zeit“. „Die haben 200 Leute von internationalen Wirtschaftskanzleien, die ihnen dabei helfen.“ Ein Start-up hingegen könne sich das nicht leisten.

Hier könnte Großbritannien einen Vorteil haben, insbesondere, weil es nicht mehr Teil der EU ist. „Es könnte passieren, dass sich Unternehmen nach Inkrafttreten des KI-Gesetzes zunächst in Großbritannien niederlassen, weil dort die regulatorischen Hürden niedriger sind“, sagt Markus Anderljung, politischer Leiter am Thinktank Centre for the Governance of AI in Oxford.

„Die wichtigste Arbeit derzeit liegt in der Entwicklung der fortschrittlichsten Systeme, also etwa ChatGPT, GPT-4 und PaLM2. Großbritannien ist hierbei erfolgreicher als alle anderen EU-Länder zusammen“, erklärt Anderljung. „Deshalb könnte es genau hier die Führung übernehmen.“

Zumindest in diesem Bereich könnte Sunak also eine Chance haben, seine Ambitionen zu verwirklichen. Zeit bleibt ihm noch. Das KI-Gesetz des europäischen Konkurrenten soll voraussichtlich im Jahr 2026 in Kraft treten. Bis dahin kann in der Welt der KI viel passieren.

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Jetzt fürchtet die britische Linke das Habeck-Schicksal

Eine „grüne Supermacht“ sollte Großbritannien werden, klimaneutral bis 2030. Das zumindest waren die Ziele der Labour-Partei. Ein Jahr später ist wenig davon übrig. Hohe Mieten und Lebensmittelpreise machen die Linke nervös: Sie fürchtet das Schicksal der deutschen Grünen.

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null Getty Images/Matthew Horwood; Montage: Infografik WELT© Bereitgestellt von WELT

Zu nichts weniger als zu einer grünen „Supermacht“ sollte Großbritannien unter Labour aufsteigen. Mit viel Pathos kündigte Parteichef Keir Starmer im vergangenen Jahr die Klimapolitik unter einer künftigen, von Labour geführten Regierung an. Die Versprechen waren groß: Klimaneutralität wolle die Partei bis 2030 erreichen, das wären 20 Jahre eher, als es die derzeit regierenden Konservativen vorsehen.

Eine Transformation von fossiler zur grünen Energie durch die eine Million Jobs geschaffen und die Energiekosten dauerhaft gesenkt würden, versprach Starmer außerdem. Und das alles, obwohl auf Öl und Gas verzichtet würde.

Labour-Chef Keir Starmer muss seinen Kurs ändern Getty Images

Labour-Chef Keir Starmer muss seinen Kurs ändern Getty Images© Bereitgestellt von WELT

Rund ein Jahr später ist wenig übrig geblieben vom Geist der grünen Revolution. Labour verabschiedet sich auf ziemlich leisen Sohlen von einem Kernversprechen seiner Klimapolitik.

Anfang Mai musste Schatten-Schatzkanzlerin Rachel Reeves zu Kreuze kriechen, als sie einen angekündigten Investitionsplan von 28 Milliarden Pfund (32 Milliarden Euro) jährlich für grüne Jobs und Technologien, der im ersten Jahr einer Labour-Regierung in Kraft treten sollte, auf frühestens Mitte der Legislaturperiode verschob. Am vergangenen Sonntag drückte sie sich gegenüber der BBC auch davor. Man sei „zuversichtlich“, den neuen Start einzuhalten, dies hänge allerdings von der Finanzlage ab.

Das sind ganz andere Worte als noch vor wenigen Monaten. Da kündigte Reeves an, „die erste grüne Schatzkanzlerin“ Großbritanniens werden zu wollen. Doch nicht nur in diesem Punkt macht die Partei einen Rückzieher. Wie der „Guardian“ Anfang Juli enthüllte, bereitet Labour sich zudem darauf vor, die zugesagte Förderung von 11,6 Milliarden Pfund (13,5 Milliarden Euro) an die weltweit ärmsten Länder, auf die sich Großbritannien auf der Klimakonferenz COP26 geeinigt hatte, nicht einzuhalten. Wie konnte das passieren?

Zwar macht Reeves die Misswirtschaft der Konservativen, insbesondere während der Kurzzeitregierung von Liz Truss‘, für den Labour-Kurswechsel verantwortlich. Doch darin steckt nur die halbe Wahrheit.

Heikle Lage für die Linke

Bei Labour ist angekommen, dass viele in der Bevölkerung angesichts der hohen Inflation, des ausgetrockneten öffentlichen Dienstes und der explodierenden Lebensmittel- und Wohnungspreisen andere Sorgen als den Klimaschutz haben. Und dass deshalb jede Ausgabe in diese Richtung sorgfältig gegenüber anderen akuten Krisen abgewogen werden muss.

Für die Sozialdemokraten ist die Lage angesichts der anstehenden Parlamentswahlen im kommenden Jahr heikel. Labour will die Kernwählerschaft aus Arbeitern und Gewerkschaften ansprechen, gleichzeitig aber Stimmen der jungen, klimabewussten Generation gewinnen. Momentan liegt die Partei in Umfragen rund 20 Prozentpunkte vor den Konservativen.

Am Donnerstag stehen Nachwahlen in drei britischen Wahlkreisen an, Labour hofft auf Erfolge. Doch in der Partei befürchten einige, dass eine zu grüne Politik diesem Ziel angesichts der aktuellen Sorgen der Bevölkerung im Weg steht.

Das bekam Labour zuletzt schon zu spüren. Nachdem Parteichef Starmer verkündet hatte, im Falle eines Wahlsieges keine neuen britischen Öl- und Gasförderprojekte in der Nordsee zu gestatten, gingen Gewerkschaften auf die Barrikaden.

Labours Politik sei „naiv“, kritisierte Gary Smith, Chef der Gewerkschaft GMB Union, im „Guardian“. Dem Sektor seien Tausende Jobs im Bereich erneuerbarer Energie versprochen worden, doch dies sei nie eingelöst worden.

Starmer besinnt sich auf Kernversprechen

Dass ambitionierte und teure Klimaschutzpläne politisches Kapital kosten können, hat der Streit über das Gebäudeenergiegesetz in Deutschland gezeigt. In Umfragen verloren die Grünen enorm an Zuspruch und liegen derzeit laut Infratest Dimap nur noch bei 14 Prozent.

Die Furcht vor einem derartigen Rückschlag ist bei Labour spürbar: „Nur ein einziger Raffineriearbeiter muss aufstehen und sagen, dass er wegen dieser Politik für die Konservativen stimmen wird, obwohl er sein Leben lang Labour gewählt hat. Dann könnte das Spiel vorbei sein“, sagte ein hochrangiges Parteimitglied gegenüber der „Times“.

Deshalb besinnt sich Starmer wieder auf die Kernversprechen seiner Partei. „Gute Gewerkschaftsjobs“ stünden im Zentrum seiner grünen Politik, versicherte er jüngst in einer Rede vor Gewerkschaftsmitgliedern. Doch mit bloßen Versprechungen wird es der Parteichef schwer haben, Schadensbegrenzung zu betreiben.

Für einige Arbeiter hat die Labour-Party längst den Ruf von Klimaaktivisten, nicht zuletzt, weil Starmer und seine Partei im vergangenen Jahrzehnt rund 1,5 Millionen Pfund (1,7 Millionen Euro) Spenden von Dale Vince, dem Gründer des grünen Energieunternehmens Ecotricity und einem der größten Unterstützer der Klimaaktivistengruppe „Just Stop Oil“, erhalten haben sollen. Da hilft auch der entnervte Seufzer, „Ich hasse Ökospinner“, den der Parteichef kürzlich vor seinem Schattenkabinett ausstieß, eher wenig.