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Türkischer Währungs- Absturz

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Kommentar

Ungenierter Autokrat

Gipfeltreffen der ECO in Usbekistan

Gipfeltreffen der ECO in Usbekistan© dpa

Der türkische Präsident Erdogan wird mit Ehren in Deutschland empfangen – dabei ist die Türkei schon lange keine Demokratie mehr. Der Kommentar.

Am Freitag kommt der türkische Präsident nach Berlin. Recep Tayyip Erdogan wird dort von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzler Olaf Scholz empfangen werden – Staatsbesuch halt. Mehr Ehre geht kaum. Das macht die Visite des Autokraten nur noch bizarrer.

Denn eine Demokratie ist die Türkei schon lange nicht mehr. Erdogan hat das Land im Würgegriff. Medien werden gelenkt oder verdrängt. Oppositionelle sitzen im Gefängnis. Außenpolitisch versucht Erdogan alles zur Ausdehnung seines Einflusses, ob in Aserbaidschan, Libyen, Syrien – oder jetzt gegen Israel.

Dass der demokratische Westen das Tischtuch noch nicht zerschnitten hat, liegt an eigenen Interessen. So meint Deutschland, auf die Türkei in der Flüchtlingspolitik nicht verzichten zu können. Überdies herrscht die Sorge, ein harter Kurs könne Erdogan völlig entfremden. So lebt es sich als Autokrat recht ungeniert.

Was kann man angesichts dessen erwarten? Vielleicht, dass Präsident und Kanzler dem Mann aus Ankara wenigstens tüchtig die Meinung sagen, selbst wenn das auch nichts nützt.

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Inflation: Erdoğan und der Fluch des billigen Geldes

Die Türkei bekommt die Inflation nicht in den Griff. Trotz neuem Wirtschaftsteam und massiven Zinserhöhungen beschleunigt sich der Preisanstieg weiter. Ein Lehrstück über die Folgen populistischer Wirtschaftspolitik.

Inflation: Erdoğan und der Fluch des billigen Geldes© Adem Altan / AFP

Wenn man Mehmet Simsek (57) so zuhört, kann man leicht den Eindruck gewinnen, er habe alles im Griff – zumindest gedanklich. Der türkische Finanzminister kann ausgesprochen klug über die wirtschaftliche Lage des Landes und seine Strategie für die Zukunft referieren. Es klingt alles überzeugend, logisch, vernünftig. Man sei mitten in einer „Kurskorrektur“, alles auf gutem Weg, sagte er am Rande der Herbsttagung von Währungsfonds und Weltbank: "Turkey is back".

Nun ja, das ist zumindest eine mutige Behauptung. Denn da ist ja auch noch Recep Tayyib Erdoğan (70), der Präsident, dessen erratische und exzentrische Wirtschaftspolitik die Türkei in den vergangenen Jahren massiv geschädigt hat. Seine religiös motivierte Abneigung gegen Zinsen hat die Inflation angeheizt und den Wechselkurs der Lira abschmieren lassen. Die Lebenshaltungskosten sind drastisch gestiegen. Es war ein rational kaum zu begründendes Verarmungsprogramm.

Doch seit seiner hart umkämpften Wiederwahl im vorigen Mai versucht Erdoğan nun eine Wende. Und Mehmet Simsek ist der Mann, der den Kurswechsel dirigieren soll.

Er war bereits zwischen 2009 und 2018 Finanzminister. Der angelsächsisch geprägte ehemalige Investmentbanker half, das Geld- und Finanzwesen zu stabilisieren und überhaupt internationale Investoren zu beruhigen. Als Erdoğan die Türkei immer weiter in Richtung Autokratie umbaute, verließ Simsek das Finanzministerium.

Seit vorigem Sommer ist der Technokrat zurück in seinem alten Amt. Doch seine Mission erweist sich als schwierig und langwierig.

Aktuell liegt die Inflationsrate bei 67 Prozent. Die türkische Zentralbank rechnet mit einem weiteren Anstieg auf über 80 Prozent im Sommer. Bemerkenswert in einer Zeit, in der anderswo der Inflationsdruck abnimmt.

So gesehen zeigt das Beispiel der Türkei, wie eine populistische Wirtschaftspolitik dauerhaften Schaden anrichten kann. Wenn das Vertrauen in die Institutionen eines Landes und seine Währung erst ruiniert ist, wird es schwierig, die Lage zu stabilisieren.

Zinserhöhungen sind (meist) unpopulär

In der abgelaufenen Woche hat die Zentralbank den Leitzins auf 50 Prozent angehoben. Ein drastischer Schritt, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Schließlich finden am kommenden Sonntag Regionalwahlen statt. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit Erdoğan seinen autokratischen Kurs fortzusetzen vermag – oder ob in Metropolen wie Istanbul, Ankara und Izmir abermals Oppositionskandidaten ins Bürgermeisteramt gewählt werden, wie bei den Regionalwahlen 2019.

Weil Zinserhöhungen üblicherweise erstmal unpopulär sind, scheuen Notenbanken vor wichtigen Wahlen eher davor zurück. Dem klassischen politökonomischen Lehrbuch folgend, hatte auch Erdoğan noch vor der Präsidentschaftswahl im vorigen Frühjahr den Leitzins extrem niedrig halten lassen. Umso überraschender kam die Notenbankentscheidung zum jetzigen Zeitpunkt.

Man kann diesen Schritt als Signal deuten: Erdoğan möchte Wählern und internationalen Investoren demonstrieren, dass es ihm mit der makroökonomischen Stabilisierung so ernst ist, dass er seine Fachleute um Simsek und Notenbankchef Yaşar Fatih Karahan sogar unmittelbar vor Wahlen freie Hand lässt.

Aber Erdoğans Kurs kann sich rasch wieder ändern. Es wäre nicht das erste Mal.

Durchs wilde Absurdistan

Als Erdoğan 2003 erstmals zum Regierungschef gewählt wurde, war die Türkei gerade dabei, sich aus einer ausgedehnten Inflationsphase herauszuarbeiten; zeitweise waren die Verbraucherpreise mit Raten um 100 Prozent gestiegen. Bei seinem Amtsantritt waren es noch 32 Prozent.

In der ersten Phase von Erdoğans Regierungszeit gelang eine Stabilisierung der Inflation auf deutlich niedrigeren Niveaus. Überhaupt betrieb er in den ersten zehn Amtsjahren eine höchst erfolgreiche Wirtschaftspolitik. In dieser Zeit gelang es, die Wohlstandslücke gegenüber den wohlhabenden westlichen Ländern, die in der OECD organisiert sind, zu halbieren. Die Türkei steuerte einen westlich orientierten Kurs, öffnete sich, proklamierte ambitionierte Ziele. Pro Kopf nahm die Wirtschaftsleistung in dieser Zeit um den Faktor 2,5 zu. Es schien, als sei die Türkei auf dem Weg, ein modernes, wohlhabendes Land zu werden – und vielleicht irgendwann tatsächlich EU-Mitglied.

Seit 2013 ist dieser Aufholprozess zum Stillstand gekommen. Die Pro-Kopf-Einkommen sind auf Dollar-Basis wieder gesunken. Obwohl diverse Fundamentaldaten, darunter die Demografie, durchaus günstig sind, hat Erdoğan die zweite Hälfte seiner langen Regierungszeit damit verbracht, das türkische Wirtschaftswunder zu vergeigen.

Und es war nicht nur der Schlingerkurs zwischen Ost und West, der das NATO-Mitglied und EU-Kandidatenland als Wirtschaftsstandort in Verruf brachte, sondern auch die weltentrückte Geld- und Währungspolitik.

Sultan of Zins

In Erdoğans ersten Regierungsjahren jedenfalls war von seiner späteren muslimisch begründeten Zinsaversion wenig zu sehen. Um die Inflation im Griff zu behalten, steuerte die Notenbank einen relativ straffen Kurs. Damals lagen die Leitzinsen deutlich über der Inflationsrate, waren also real positiv.

Diese Phase endete mit der Finanzkrise von 2008/09. Während im Westen die Zinsen immer weiter absackten, gingen auch in der Türkei die Realzinsen zurück und pendelten fortan um die Nulllinie.

In dieser Zeit entwickelte Erdoğan seinen persönlichen geldpolitischen Mythos. In Kurzform: Hohe Zinsen treiben die Inflation, niedrige Zinsen bekämpfen sie. Da der Koran das Erheben von Zinsen ächtet, gab es sogar eine religiöse Begründung – anscheinend jedenfalls, denn zu Zeiten von Religionsstifter Mohammed war der Unterschied zwischen nominalen und realen Größen noch nicht gängig, zurückhaltend formuliert.

Dass kein ernst zu nehmender Ökonom oder Wirtschaftspolitiker diese Überzeugung teilte – weil sie messbar nicht der Realität entspricht –, focht den zunehmend sultanesk auftretenden Präsidenten nicht an. Er schränkte die Autonomie der Zentralbank immer weiter ein, verschliss einen Zentralbankgouverneur nach dem anderen. Denn wenig überraschend war niemand in der Lage, die gewünschte Kombination aus niedrigen Zinsen und sinkenden Inflationsraten zustande zu bringen.

Das Resultat war ein geldpolitischer Zickzackkurs. Mal wurden die Leitzinsen rapide angehoben, dann wieder gesenkt. Währenddessen nahm die Inflation seit 2020 immer weiter Fahrt auf. Noch im Wahlmonat Mai 2023 lagen die nominalen Leitzinsen bei nur 8,5 Prozent, die Inflation hingegen bei 50 Prozent – eine groteske Konstellation.

Es war überdeutlich, dass es so nicht weitergehen könnte. Ein neues Wirtschaftsteam aus technokratischen Profis wurde angeworben, darunter Simsek als Finanzminister und Hafize Gaye Erkan (44), eine frühere Volkswirtin der US-Federal Reserve, als Zentralbankchefin. Erkan trat zwar im Februar zurück (nachdem sie binnen eines Dreiviertel Jahres die Zinsen um mehr als 35 Prozentpunkte angehoben hatte). Immerhin hält Nachfolger Karahan Kurs – bislang jedenfalls.

Wege aus der Autoritarismusfalle

Die große offene Frage ist, wie lange es diesmal dauert, bis sich Erdoğan umentscheidet. Wenn selbstherrlich agierende ältere Männer sich zu Herrschern aufschwingen, die ohne nennenswerte Opposition und kritische Medien ihre eigene Herrlichkeit zelebrieren, dann untergräbt das die Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen. Staatliches Handeln folgt dann nicht mehr unbedingt dem Gesetz und der Vernunft, sondern den persönlichen Interessen und momentanen Launen einer einzelnen Führerfigur. Keine beruhigende Vorstellung aus Sicht von Bürgern und Investoren. Allein diese institutionelle Unsicherheit behindert Fortschritt und Wohlstand.

Ob die Türkei aus der Autoritarismusfalle herausfindet und unter dem Druck der Marktrealitäten zu einem insgesamt solideren, berechenbaren Kurs zurückkehrt? Es wäre eine großartige Entwicklung. Immerhin ist der Weg in den Autoritarismus keine Einbahnstraße – auch wenn die Umkehr oft reichlich spät kommt.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Montag

Frankfurt – Am Boden – Beginn der Schlichtung im Tarifkonflikt des Lufthansa-Bodenpersonals. Das Ziel: Streiks vor Ostern zu verhindern.

Peking – Open for Business? – Abschluss des chinesischen internationalen Entwicklungsforums. Erwartet werden Mitglieder der chinesischen Administration sowie die Chefs diverser internationaler Konzerne. Der Pekinger Führung, die durch ihr zunehmend invasives Gebaren Unternehmen verschreckt hat, möchte zeigen, dass man offen für internationale Investoren ist.

New York – Stormy Monday –Anhörung vor dem Prozess gegen Ex-Präsident Trump im Zusammenhang mit Schweigegeldzahlungen an die Pornodarstellerin Stormy Daniels. Der Staatsanwalt geht allgemeiner um das Zurückhalten relevanter Informationen im Wahlkampf 2016.

Dienstag

Nürnberg – Stimmungstief – Vorstellung des aktuellen Konsumklimaindikators.

Mittwoch

Geschäftszahlen von EnBW, Jenoptik, H&M

Donnerstag

Nürnberg – Mehr Jobs, mehr Arbeitslose – Die Bundesagentur für Arbeit legt die Statistik für den deutschen Arbeitsmarkt im März vor. Frühindikatoren deuteten zuletzt auf ein Abflauen der Beschäftigungsdynamik hin.

Rom – Begib Dich direkt dorthin! – Papst Franziskus besucht am Gründonnerstag ein römisches Frauengefängnis, wo er den Ritus der Fußwaschung vollziehen will.

Freitag

Karfreitag

Sonntag

Ankara/Istanbul etc. – Großstadttest – Kommunalwahlen in der Türkei. Die große Frage ist, ob Präsident Erdogans AKP auch die großen Metropolen gewinnen kann. Bei der letzten Abstimmung vor fünf Jahren hatte die Opposition unter anderem die drei größten Städte des Landes, Istanbul, Ankara und Izmir, gewonnen.

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Aufstand gegen Erdoğan

Eine Aussage lässt aufhorchen

Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident nennt die Demonstrationen "Straßenterror". (Quelle: Hasnoor Hussain/ap)

Die Türkei erlebt ihre größte Protestwelle seit zwölf Jahren. Doch während Recep Tayyip Erdoğan die Demonstrationen damals mit Gewalt niederschlagen konnte, ist die Lage für den türkischen Staatschef dieses Mal gefährlicher.

Der Sturm geht weiter. In der Türkei gehen nach der Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu weiterhin Hunderttausende Menschen auf die Straße. Sie fordern die Freilassung İmamoğlus und den Rücktritt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Eine junge Demonstrantin sagte im "Weltspiegel" der ARD, man würde den Menschen die Möglichkeit nehmen, ihren favorisierten Kandidaten zum Präsidenten zu wählen. "Das tragen wir nun auf die Straße." Auf vielen Demonstrationen im Land ist wiederholt ein Leitspruch zu hören: "Bu daha başlangıç, mücadeleye devam." Zu Deutsch: "Das ist erst der Anfang, kämpft weiter."

Kundgebung in Istanbul am Samstag: Die Veranstalter sprechen von über zwei Millionen Teilnehmern. (Quelle: Reuters/Umit Bektas/reuters)

Einerseits sind es junge Menschen, die gegen Erdoğan auf die Barrikaden gehen – die sogenannte Generation Z. Studierende, Schülerinnen und Schüler, von denen viele noch keinen anderen Staatschef als Erdoğan erlebt haben. In der Türkei sind sie durchaus ein wichtiger Faktor, denn knapp ein Viertel der Gesellschaft ist unter 30 Jahre alt. Doch bei den Protestierenden handelt es sich nicht nur um junge Menschen, sondern um ein breites Bündnis der Opposition.

So sprach die kemalistische und sozialdemokratische CHP, die Partei von İmamoğlu, von zwei Millionen Menschen, die am Samstag zu einer Kundgebung in Istanbul gekommen sein sollen. Selbst falls die Zahl übertrieben sein sollte, ist auf den Bildern ein riesiges Menschenmeer zu sehen. Der Aufstand erinnert sehr an die Gezi-Proteste 2013, aber mit einem wichtigen Unterschied: Zwar gingen auch damals größtenteils junge Menschen gegen die herrschende Politik auf die Straße. Doch nun, knapp zwölf Jahre später, scheinen sie die Mehrheit der türkischen Gesellschaft auf ihrer Seite zu haben.

Istanbul: Die Polizei geht mit Gewalt gegen Demonstranten vor. (Quelle: Francisco Seco/ap)

Trotzdem ist unklar, wie gefährlich die Proteste Erdoğan werden können. Nur eines liegt auf der Hand: Der türkische Staatschef hat sie unterschätzt. Und während er mit seinen Wutreden politisch mehr und mehr in eine Sackgasse läuft, sehen die Demonstranten darin ein Endspiel um die Verteidigung der türkischen Demokratie. Eine Gemengelage, die unheimliches Eskalationspotenzial birgt.

"Das war die alte Türkei"

Die türkische Führung lässt dabei nichts unversucht, den Demonstranten zu drohen. Es gibt Tausende Verhaftungen, auch viele regimekritische Journalisten sind betroffen. Selbst ein Reporter des britischen Senders BBC wurde verhaftet und abgeschoben. Vor allem trifft es aber türkische Oppositionelle. Sie werden eingesperrt, manche von ihnen sogar präventiv, bevor sie eine Rolle bei den gegenwärtigen Protesten einnehmen können.

Ekrem İmamoğlu: Istanbuls Bürgermeister wurde am 9. März verhaftet. (Quelle: Oliver Berg/dpa)

Erdoğan hat die Demonstrationen gegen ihn wahrscheinlich eingepreist. Türkische Politikwissenschaftler vermuten allerdings, dass die türkische Regierung damit gerechnet hat, dass die Protestwelle wenige Tage nach der Verhaftung İmamoğlus abebben würde. Auch deswegen setzt der Präsident auf Drohungen und Einschüchterungen, die er mittlerweile fast täglich wiederholt: "Die Tage, an denen Justiz und Politik sich von Straßenterror beeinflussen ließen, sind vorbei. Das war die alte Türkei", wütete Erdoğan vergangene Woche.

Die Botschaft ist klar: Erdoğan will nicht nachgeben. İmamoğlu soll wahrscheinlich über Jahre weggesperrt bleiben und 2028 nicht zur Präsidentschaftswahl antreten dürfen.

Istanbuls Bürgermeister sitzt wegen Korruptionsverdacht und Terrorunterstützung in Untersuchungshaft. Beweise wurden bisher nicht veröffentlicht. Die angeblichen Zeugen möchten anonym bleiben, sie können İmamoğlu nicht direkt belasten, sondern berufen sich auf Hörensagen. Wahrscheinlicher als İmamoğlus angebliche Vergehen erscheint, dass der türkische Staatschef seinen ärgsten Konkurrenten aus dem Weg räumen wollte. Denn in Umfragen aus dem Februar 2025 liegt İmamoğlu deutlich vor dem türkischen Präsidenten.

Wirklich überraschend ist das nicht. Erdoğan hat es immer noch nicht geschafft, die Wirtschafts- und Währungskrise in der Türkei unter Kontrolle zu bringen. Hinzu kommt, dass İmamoğlu die Opposition vereinen und dabei konservative und säkulare Muslime als Wählerinnen und Wähler ansprechen kann. Denn İmamoğlu vereinigt durch seine Herkunft und seine Familie beide dieser Strömungen. Der türkische Soziologe Berk Esen sagte der ARD: "Wenn ich den idealen Politiker entwerfen müsste, der Recep Tayyip Erdoğan schlagen kann, dann wäre das Ekrem İmamoğlu."

Erdoğan nutzt seinen Machtapparat

Doch Beliebtheit in der Gesellschaft reicht aktuell nicht aus, um türkischer Staatschef zu werden. Erdoğan hat im vergangenen Jahrzehnt Schritt für Schritt die Türkei in eine Autokratie verwandelt. Er hat ein Präsidialsystem errichten lassen, das auf ihn als starken Machthaber zugeschnitten ist. Er hat die Medien gleichgeschaltet und die Justiz ausgehöhlt. Wahlen gelten in der Türkei zwar als frei, sie sind aber nicht fair – aufgrund der Übermacht der regierungsnahen Medien.

Diese Machtinstrumente werden auch dieses Mal vom türkischen Regime genutzt, um die Demonstrationen einzudämmen. Erdoğan lässt seine Sicherheitskräfte mit Härte gegen die Demonstrierenden vorgehen. Wasserwerfer, Schlagknüppel, Pfefferspray kommen zum Einsatz. Denn die Versammlungsfreiheit wurde von der Regierung fast zur Gänze ausgesetzt.

Bislang soll es knapp 2.000 Verhaftungen im Zuge der Proteste gegeben haben. (Quelle: Murad Sezer/reuters)

Aber damit nicht genug. Regierungskritische TV-Sender wie Sözcü TV bekommen Sperren und Sendeverbote, die durch die türkische Rundfunkaufsichtsbehörde verhängt werden. Zeitweise wird in türkischen Großstädten der Zugang zum mobilen Internet blockiert, während regimefreundliche Sender ständig über neue Verhaftungen berichten. Auch das dient der Einschüchterung.

Weniger Gewalt als während der Gezi-Proteste

Im Angesicht dieser Repressalien haben manche Menschen einen Moment gebraucht, um auf İmamoğlus Verhaftung zu reagieren. Doch nun scheinen viele Erdoğan-Kritiker die Gewissheit gefunden zu haben, dass sie nicht alleine stehen. Sie fanden ihren Mut.

Aber die Demonstranten haben aus Gezi gelernt. Zwar gibt es in der Türkei wieder Straßenschlachten mit der Polizei, vereinzelt brennende Mülltonnen und Gewalt auf beiden Seiten. Doch es ist bislang kein Vergleich zu den Protesten 2013, bei denen die Demonstranten die Polizei aus dem Zentrum Istanbuls um den Taksim-Platz verscheuchten, Straßen aufbrachen und große Barrikaden errichteten. Man will Erdoğan dieses Mal offenbar keinen Vorwand geben, die Proteste als Terror zu verunglimpfen.

Der Großteil der Demonstrationen bleibt bislang friedlich. In Istanbul schlagen viele Menschen auf ihren Balkonen mit Kochlöffeln auf Töpfe – ein Zeichen des Protests. Und auf den Straßen heißt es: "Wer nicht hupt, ist ein Erdoğan-Anhänger."

In der Türkei gibt es zwar noch viele Unterstützer des türkischen Präsidenten, aber sie sind aktuell auffällig still. In der Vergangenheit und besonders während der Gezi-Proteste brüstete sich Erdoğan stets damit, dass er 50 Prozent der Bevölkerung als seine Unterstützer auf die Straße rufen könnte. Nun spricht er lediglich noch von den Sicherheitsorganen – und das lässt aufhorchen.

Gelingt die Revolte?

Denn einige seiner ehemaligen Anhänger stehen nun aufseiten der Demonstranten. Manche junge Männer zeigen auf Fotos bei den Protesten den sogenannten Wolfsgruß – ein nationalistisches Symbol in der Türkei. Diese gesellschaftlichen Kräfte standen bisher mehrheitlich auf Erdoğans Seite. Dass nun auch Nationalisten gegen ihn demonstrieren, zeigt, dass nicht nur Linke und Progressive unzufrieden sind, sondern ein Querschnitt der Gesellschaft auf die Straßen geht.

Istanbul: Demonstranten zeigen den nationalistischen "Wolfsgruß". (Quelle: Umit Bektas/reuters)

Für Erdoğan kann das durchaus gefährlich werden, denn die Türkei befindet sich in einer Eskalationsspirale. Schon jetzt hat der Präsident seinen Konkurrenten İmamoğlu zum politischen Märtyrer gemacht. Wenn er ihn wieder freilassen würde, würde er sich mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2028 schon jetzt ins Abseits katapultieren. Sollte er dagegen die Krise überstehen, hätte er seine Macht mittelfristig gefestigt.

Für die Demonstrierenden geht es um mehr. Viele von ihnen sehen sich in einem finalen Kampf, in dem die türkische Demokratie und Meinungsfreiheit vor Erdoğan verteidigt werden muss. Ob das gelingt, wird von ihrer Standfestigkeit abhängen, von ihrem Durchhaltewillen. Und davon, ob sie Unterstützung aus dem türkischen Sicherheitsapparat und möglicherweise aus dem europäischen Ausland bekommen können. Doch das ist bisher nicht in Aussicht.

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Foreign Policy

Die Luft wird dünn: Erdogan kann sich nicht länger auf das Militär verlassen

Der zunehmend repressive türkische Führer kann sich nicht auf die Loyalität des Militärs verlassen.

  • Der türkische Präsident scheitert mit der Loyalisierung seiner Armee.
  • Es zeichnen sich ernüchternde Parallelen zum arabischen Frühling ab.
  • Wahlergebnisse deuten auf mangelnde Unterstützung für Erdogan in der Armee hin.
  • Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 23. April 2025 das Magazin Foreign Policy.

Ankara – Die Entscheidung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vom vergangenen Monat, den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, seinen stärksten politischen Rivalen, zu inhaftieren, löste die heftigsten politischen Proteste und Boykotte seit Jahren aus. Die Maßnahme erfolgte unter dem Vorwurf der Korruption und des Terrorismus, wurde jedoch von Beobachtern und der türkischen Opposition als Punkt ohne Wiederkehr für die Demokratie in der Türkei bezeichnet und markiert einen bedeutenden Schritt in Richtung einer vollständigen Autokratie.

Dieser Versuch, Imamoglu von der Teilnahme an den nächsten Wahlen auszuschließen, schränkt den Weg der Opposition zum Wahlsieg erheblich ein und zeigt, dass Erdogan keine glaubwürdigen Herausforderungen seiner Herrschaft zulassen wird. In Verbindung mit der Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz, der Medienfreiheit und fairer Wahlverfahren bieten die Wahlurnen keinen glaubwürdigen Weg mehr für einen politischen Wandel. Für viele sind die Straßen zum letzten Ort des Widerstands geworden.

Erdogans Türkei – es reicht nicht für eine vollständige Diktatur

Doch obwohl Erdogan bedeutende Schritte zur Festigung seiner autoritären Herrschaft unternommen hat, verfügt die Türkei nicht über die für eine vollständige Diktatur erforderlichen wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Vor allem fehlt Erdogan ein vollständig loyaler Zwangsapparat, der seinen Willen bedingungslos durchsetzen kann – insbesondere das Militär, das lange Zeit als unverzichtbar für robuste autokratische Regime galt.

Damit befindet sich die Türkei in einer prekären Schwebelage zwischen einem kompetitiven Autoritarismus, in dem Wahlen und andere demokratische Institutionen nominell existieren, aber durch systematischen Machtmissbrauch untergraben werden, und einer offenen Diktatur. In dieser Übergangsphase wird das Regime sehr anfällig für öffentliche Proteste sein, aber dennoch nicht über die nötigen Zwangsmittel verfügen, um diese entscheidend zu unterdrücken. Diese Konstellation ist von Natur aus instabil und könnte nach hinten losgehen, sollte Erdogan diesen Kurs fortsetzen.

Seit Mitte der 2000er Jahre hat Erdogan versucht, das Militär durch eine Umgestaltung der Führung und die Säuberung mutmaßlicher Dissidenten gegen Staatsstreiche immun zu machen. Diese Bemühungen wurden nach dem gewaltsamen Putschversuch von 2016 verstärkt, der in erster Linie von Anhängern des verstorbenen muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen angeführt wurde, die Erdogan stürzen wollten – und scheiterten.

Erdogan suchte Einfluss im Militär – und erhielt eine zersplitterte Armee

Erdogan ist es zwar gelungen, sich die Gehorsamkeit der Führungsspitze zu sichern, doch das Ergebnis ist keine einheitlich loyale Streitmacht, sondern eine auf allen Ebenen stark politisierte Armee. Der Unterschied ist entscheidend: Eine loyale Armee ist bedingungslos gehorsam und ideologisch mit dem Regime auf einer Linie, während eine politisierte Armee zersplittert ist, unter dem Druck politischer Erwartungen steht und hinter einer gefügigen, einheitlichen Fassade von innerem Misstrauen geprägt ist.

Durch die Politisierung des Militärs hat Erdogan auch die Zukunft seines eigenen Regimes gefährdet. Wenn er die Repression weiter verschärft – insbesondere wenn er versucht, das Militär zur Unterdrückung von Protesten einzusetzen –, riskiert er, sich zu übernehmen. Das Militär würde gerne neutral bleiben, aber wenn es zu sehr unter Druck gesetzt wird, den Forderungen des Regimes nachzukommen, könnte es sich spalten, was destabilisierende Folgen nicht nur für die Türkei, sondern für die gesamte Region hätte.

Die regierungsfeindlichen Protestbewegungen, die im Rahmen des Arabischen Frühlings in den 2010er Jahren den Nahen Osten erschütterten, bieten ernüchternde Parallelen. Das Schicksal autoritärer Regime hing in hohem Maße von der Bereitschaft des Militärs ab, Dissens zu unterdrücken. In Tunesien und Ägypten war die Weigerung des Militärs, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen, ein entscheidender Faktor dafür, dass die Massenopposition die fest verwurzelten Autokraten stürzen konnte. In Bahrain und Saudi-Arabien halfen loyale Sicherheitskräfte den Monarchien durch gewaltsame Niederschlagung der Demonstrationen zu überleben. Und in Libyen, Syrien und Jemen lösten die gespaltenen Loyalitäten der zersplitterten Militärs zwischen dem Regime und der Opposition blutige Bürgerkriege aus.

Das türkische Militär könnte sich gegen Erdogan wenden

Die Türkei ist gegen diese Dynamik nicht immun. Seit 2016 hat Erdogan die Entlassung von mehr als 125.000 Beamten, darunter Tausende von Militäroffizieren, überwacht. Regierungsnahe Medien betonen stolz, dass die Mehrheit der derzeitigen Mitarbeiter in Justiz und Sicherheitsdiensten nach dem Putsch durch offene politische Überprüfungen eingestellt wurden. Die Botschaft des Erdogan-Regimes ist klar: Der Staat wird keine abweichenden Meinungen mehr tolerieren, und die Sicherheitskräfte, einschließlich des Militärs, werden das Regime verteidigen.

Diese Darstellung verschleiert jedoch eine wichtige Tatsache: Während Erdogan staatliche Institutionen mit politischen Loyalisten besetzt hat, lassen sich tief verwurzelte Organisationen wie das Militär nicht so leicht umgestalten.

Das Militär und andere hierarchische Institutionen, die über eigene kulturelle Normen und Organisationsstrukturen verfügen, neigen dazu, politische Einmischung zu moderieren. Dies gilt insbesondere für die Türkei, wo die Sozialisierung durch das Militär früh beginnt und sowohl intensiv als auch nachhaltig ist.

Erdogans Ideologie dringt nicht zu den Soldaten durch

Darüber hinaus lässt sich ideologische Loyalität nicht durch die Besetzung von Posten mit politischen Handlangern erzwingen. Wie ich in meiner eigenen Forschung beobachtet habe, kommen viele Rekruten aus unpolitischen Verhältnissen oder betreiben so etwas wie „Lifestyle-Fälschung“: Sie passen ihr Aussehen und Verhalten den politischen Erwartungen an, ohne die Ideologie des Regimes tief zu verinnerlichen. Das Signalisieren politischer Loyalität und das Sichern politischer Referenzen mögen Kandidaten den Einstieg oder die Beförderung erleichtern, garantieren aber keine langfristige Loyalität.

Die Muster der Rekrutierung für das Militär werden auch durch informelle soziale Netzwerke geprägt, die die Streitkräfte mit bestimmten Regionen und sozialen Gruppen verbinden. So wie das US-Militär seine Wurzeln in bestimmten geografischen, kulturellen und familiären Milieus hat, stützt sich das türkische Offizierskorps auf langjährige soziale Kanäle, die sich einer politischen Homogenisierung widersetzen.

Erdogan kann nicht auf die bedingungslose Unterstützung der Armee hoffen.© ABACA/IMAGO

Beim Aufbau einer Regimearmee legen Autokraten oft Wert darauf, Loyalität an der Spitze zu schaffen, indem sie selektiv ideologisch oder ethnisch gleichgesinnte Generäle befördern, wie es der ehemalige syrische Präsident Bashar al-Assad oder der venezolanische Präsident Nicolás Maduro getan haben.

Aber auch diese Strategie hat ihre Grenzen. Hochrangige Offiziere werden aus einer begrenzten Gruppe rekrutiert, die tief mit institutionellen Werten verflochten ist. Selbst Generäle, die unter Erdogan aufgestiegen sind, wie Tevfik Algan, haben dennoch Loyalität gegenüber den Gründungsprinzipien der Republik bewiesen, ebenso wie konservative Persönlichkeiten wie Hulusi Akar, als das Militär noch streng säkular war.

Noch widerstandsfähiger sind die mittleren Ränge, von Hauptmännern bis zu Obersten, die taktische Einheiten befehligen und täglich mit Soldaten und Zivilisten zu tun haben. Ihre Verankerung in der professionellen Militärkultur macht sie unverzichtbar, bedeutet aber auch, dass es schwierig ist, ihre politische Loyalität zu überwachen. Selbst die ausgefeiltesten Überwachungssysteme und -netzwerke haben oft Mühe, diese Führungsschicht zu durchdringen.

Erdogan verfehlt Machteinfluss im türkischen Militär

Die Schaffung einer wirklich gehorsamen Armee braucht Zeit, und selbst dann bleibt die Gefahr von Desertionen bestehen. Wie die Aufstände des Arabischen Frühlings gezeigt haben, können sich Soldaten selbst in streng kontrollierten, langjährigen Regimes weigern, auf Zivilisten zu schießen, wie es in Tunesien, Ägypten und teilweise in Syrien der Fall war.

Und türkische Offiziere haben sich trotz ihrer historischen Rolle bei Staatsstreichen im Allgemeinen geweigert, personalistischen Führern zu helfen, insbesondere in Zeiten von Massenprotesten.

Die Fragilität von Erdogans Kontrolle über das Militär wurde im August 2024 bei der Abschlussfeier der türkischen Militärakademie deutlich. Nach der offiziellen Zeremonie, an der Erdogan teilnahm, erhoben Hunderte von neu ernannte Leutnants ihre Schwerter und schwörten nicht dem Präsidenten, sondern den säkularen und demokratischen Prinzipien der Republik Treue. Ihr Sprechchor „Wir sind Mustafa Kemals Soldaten“ war eine deutliche Anspielung auf Mustafa Kemal Atatürk, den Gründer der Türkischen Republik, und sein säkulares Erbe.

Erdogan reagierte mit Säuberungsaktionen – fünf Leutnants wurden entlassen, drei Akademieleiter abgesetzt –, die von einem gespaltenen Disziplinarausschuss der Armee nur mit knapper Mehrheit gebilligt wurden. Algan, der Stabschef der Armee, der gegen die Entlassungen gestimmt hatte, wurde bald zum Rücktritt gezwungen. Die Episode offenbarte eine Militärführung, die alles andere als einheitlich ist.

Ausgerechnet Militärs unterstützen die türkische Opposition

Die Wahlergebnisse verkomplizieren Erdogans Loyalitätsnarrativ zusätzlich. Bei den Kommunalwahlen 2019 und 2024 unterstützten Offiziere und ihre Familien trotz einer von Nationalismus und militaristischer Symbolik geprägten Kampagne überwiegend Oppositionskandidaten wie Imamoglu und den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas. In Istanbul und Ankara verzeichneten Wahlbezirke in der Nähe von Militärunterkünften einen Stimmenanteil der Opposition von bis zu 80 Prozent. Selbst in kleineren Garnisonen, wo auch konservativ eingestellte Soldaten zur Wahl gingen, schnitt Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung unterdurchschnittlich ab.

Diese Trends spiegeln mehr als nur politische Unzufriedenheit wider. Das Offizierskorps ist nicht immun gegen nationale Missstände: Militärfamilien sind denselben wirtschaftlichen Unsicherheiten ausgesetzt – steigende Inflation, Wohnungsnot und sinkende Kaufkraft –, die die allgemeine Unzufriedenheit schüren.

Über den Zusammenhalt hinaus untergräbt Erdogans Politisierung des Militärs auch dessen Effektivität. Dies ist ein wichtiges Anliegen für Offiziere, die die Folgen aus erster Hand beobachten. Zwar haben die türkischen Streitkräfte kompetente grenzüberschreitende Operationen in Syrien und im Irak durchgeführt, doch ist dieser Erfolg vor allem auf Kampferfahrung und technologische Überlegenheit, einschließlich Drohnen, zurückzuführen – und nicht auf institutionelle Stärke und Effizienz.

Erdbeben in der Türkei legt Ineffektivität der türkischen Armee offen

Die Reaktion auf das Erdbeben von 2023 hat die Folgen von Erdogans Bemühungen um eine Putschsicherung deutlich gemacht. Das Militär versagte in den kritischen ersten Stunden, gelähmt durch eine Befehlskette, die ohne politische Vorgaben nicht zu handeln wagte.

Und der Vorfall bei der Abschlussfeier im vergangenen Jahr, der zur Entlassung hochdekorierter Offiziere und der fünf besten Absolventen der Militärakademie führte, hat die Ängste im Offizierskorps noch verstärkt. Viele Offiziere befürchten zunehmend, dass berufliche Verdienste auf dem Altar der politischen Konformität geopfert werden.

Erdogans Türkei wird seit langem als kompetitives autoritäres Regime eingestuft, in dem Wahlen zwar stattfinden, aber unfair sind. Die Verhaftungen von Imamoglu und den Vorsitzenden der nationalistischen Zafer-Partei und der pro-kurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker haben das Land in Verbindung mit der Aushöhlung der Wahlintegrität in ungewisse Gewässer geführt. Wahlen scheinen nun weitgehend symbolisch zu sein; selbst regierungsnahe Stimmen geben offen zu, dass ein Machtwechsel durch Wahlen kaum möglich ist.

Ohne eine einheitlich loyale Armee ist die Türkei jedoch auch keine vollständig repressive Autokratie geworden. Die Türkei befindet sich derzeit in einer unruhigen Zwischenphase – man könnte sie als „nicht wettbewerbsfähige Autokratie“ oder „halb repressive Diktatur“ bezeichnen –, die eine besondere Gefahr darstellt.

Durch die Politisierung des Militärs und die Aushöhlung des Wahlprozesses hat Erdogan den Keim für Konflikte und Instabilität gesät und damit sowohl die Beständigkeit des Regimes als auch die Aussicht auf einen friedlichen Machtwechsel untergraben. Im schlimmsten Fall, wenn die Proteste anschwellen und Erdogan um jeden Preis an der Macht festhält, könnte die Türkei den Weg Syriens oder Libyens einschlagen – mit langwierigen inneren Konflikten und Chaos – und nicht den Ägyptens oder Saudi-Arabiens.

Erdogan könnte noch versuchen, die Streitkräfte einzusetzen, um Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Aber wie sowohl die Geschichte der Türkei als auch die der gesamten Region zeigen, gilt: Je mehr Autokraten sich zur Unterdrückung auf ihr Militär stützen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie die Kontrolle darüber verlieren.

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