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Türkischer Währungs- Absturz

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__________ Absturz der Lira bringt Türkei in Bedrängnis

 

London (Reuters) - Die türkische Lira fällt ungebremst und steuert zum Dollar auf die Marke von acht Lira zu.

Bemühungen der Notenbank, am Devisenmarkt einzugreifen, laufen mittlerweile ins Leere, und auch die überraschende Zinserhöhung im September scheint inzwischen verpufft zu sein. Der Verfall der Landeswährung bringt das Nato-Mitglied zunehmend in Bedrängnis. Allein seit Jahresauftakt hat die Lira fast ein Drittel verloren - binnen eines Jahrzehnts sind es mehr als 80 Prozent. Im Folgenden ein Überblick über die Konsequenzen, die sich daraus ergeben:

HOHE AUSLANDSSCHULDEN DER PRIVATWIRTSCHAFT

Die Staatsverschuldung der Türkei gilt allgemein als tragbar. Anders sieht es aber bei den Unternehmen und Finanzinstituten des Landes aus. Viele haben in den vergangenen Jahren Kredite im Ausland aufgenommen, weil sie dort häufig niedrigere Zinsen zahlen müssen. Auf sie kommen allein in den kommenden zwei Monaten Rückzahlungen im Volumen von fast zehn Milliarden Dollar zu. "Eine weitere Abwertung der Lira würde die Bilanzen der Firmen weiter belasten und negative Auswirkungen auf die Investitionsaussichten haben", sagt Ugras Ulku, Chefanalyst für europäische Schwellenländer beim Institute of International Finance (IIF). Das komme ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo vermehrte Investitionen nötig seien, um die Produktivität zu steigern, die Arbeitslosigkeit abzubauen, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die Exporte in Schwung zu bekommen. Im Außenhandel allerdings kommt die schwächere Währung den Firmen zugute, weil sie ihre Produkte billiger im Ausland verkaufen können.

LEBENSHALTUNGSKOSTEN STEIGEN KRÄFTIG

Die Schwäche der Währung macht sich in den Geldbeuteln der Bevölkerung bemerkbar. Die Inflation ist ein wunder Punkt für die Türkei, die auf eine Geschichte sehr stark steigender Lebenshaltungskosten zurückblickt - die Zeit der Hyperinflation wurde erst vor 17 Jahren überwunden. Im September ging die Teuerungsrate leicht zurück, liegt mit 11,75 Prozent aber weit über der Zielmarke der Notenbank von fünf Prozent. Experten rechnen nicht damit, dass sich die Inflation bald beruhigt.

"Wir gehen davon aus, dass die Abwertung der Lira der Haupttreiber der Inflation ist", sagt Goldman-Sachs-Experte Kevin Daly. Verliert die Währung an Wert, verteuern sich Einfuhren. Daly verweist zudem darauf, dass die Inflation zuletzt auch durch Steuersenkungen gedrosselt worden sei und der Preisdruck in der Kernrate weiterhin hoch sei.

Der Notenbank gelingt es kaum, die Teuerungsraten in den Griff zu bekommen. Der Zinssatz liegt auch nach der überraschenden Zinserhöhung mit 10,25 Prozent unter der Teuerungsrate. Damit bietet er wenig Anreize für ausländisches Kapital und schwächt die Währung des Landes, das ohnehin unter einem Leistungsbilanzdefizit ächzt.

WAS KANN DIE NOTENBANK TUN?

Ein wichtiger Grund, warum Investoren das Vertrauen in die Lira verlieren, ist die Frage nach der Unabhängigkeit der Notenbank. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt als ein Verfechter niedriger Zinsen. Viele Investoren fürchten seinen Einfluss auf die Notenbank.

Umso überraschender kam die Zinserhöhung um 200 Basispunkte im September. Bei Experten stieß der Schritt auf Zustimmung - konnte jedoch den Kursrutsch der Lira kaum bremsen. Auch die höheren Obergrenzen für Devisentransaktionen mit ausländischen Kreditinstituten wurden von Analysten begrüßt. "Das lässt darauf schließen, dass es die türkischen Behörden endlich verstanden haben", sagte Timothy Ash von BlueBay Asset Management in einer ersten Reaktion. Allerdings halten viele Fachleute weitere Zinsschritte für nötig. "Der Zinssatz muss 100 oder 200 Basispunkte über der Inflationsrate liegen - dann können wir zu einem konstruktiveren Umgang mit der Lira kommen", sagt Commerzbank-Fachmann Tatha Ghose.

Die Notenbank hatte sich bereits mit Eingriffen am Devisenmarkt gegen den Verfall der Landeswährung gestemmt. Als Ergebnis schwinden jedoch die Devisenreserven. Goldman Sachs geht davon aus, dass die Türkei allein in diesem Jahr fast 80 Milliarden Dollar verbrannt hat, um die Währung zu stützen. Jüngsten Daten zufolge sind weniger als 20 Milliarden Dollar an Reserven übrig.

 

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Recep Tayyip Erdoğan: Gut geht es ihm nicht

Die Gerüchte um Recep Tayyip Erdoğans Gesundheit hören nicht auf. Selbst wenn der türkische Präsident nicht so krank ist, wie erzählt wird: Seine Macht verliert an Kraft.

"Erdoğan soll gestorben sein." Das Gerücht verbreitete sich in der Türkei vor einigen Tagen schnell, gleich nachdem der Staatspräsident eine Sitzung seiner Partei, der islamisch-konservativen AKP, hatte absagen lassen und für einen halben Tag nicht zu sehen war. Parteifreunde sollen es in Chatgruppen in Umlauf gebracht haben, war in Ankara hinter verschlossenen Türen zu erfahren, die Regierung selbst äußerte sich nicht wirklich. Stattdessen veröffentlichte sein Kommunikationschef Fahrettin Altun Stunden später ein kurzes Video: Erdoğan mit gesenktem Kopf, wie er ein paar Schritte auf einem regennassen Empfangsteppich geht. Keine Information, wann oder wo das gewesen sein soll, nur die Worte: "Vertraue dem Freund und fürchte den Feind …" – kurz danach hieß es, dass gegen 30 Menschen, die über das Gerücht getwittert hatten, wegen Präsidentenbeleidigung ermittelt werde.

Zwar leben Todgesagte bekanntlich länger, die angebliche Sterbenachricht und das nicht wirklich eindeutige Video weckten aber genug Zweifel. Es waren ja auch nicht die ersten Nachrichten dieser Art. Bereits seit Monaten wird in den sozialen Medien über den Gesundheitszustand des 67-jährigen Staatspräsidenten spekuliert. Anlass dazu gab Erdoğan zuletzt oft selbst: Er schlief wiederholt bei öffentlichen Veranstaltungen ein, schien sich bei einem anderen Termin auf seine Frau stützen zu müssen, um eine Treppe zu überwinden, und bei einem Empfang vor wenigen Wochen hatte er sichtlich Probleme, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dazu Gerüchte, Erdoğan sei vergesslich geworden, habe Anfälle von Verwirrung und Atemprobleme, müsse sich öfters erbrechen. Insider behaupten, dass er sich vor öffentlichen Veranstaltungen mit Schmerzmitteln aufpumpe und die Zahl seiner Ärzte erhöht habe.

Öffentliche Aussagen zu Erdoğans Gesundheitszustand gibt es nicht, schon gar nichts Offizielles. Sicher bekannt ist bisher nur, dass er vor Jahren wegen Krebs operiert wurde und an Epilepsie leidet. Alles weitere bleiben Gerüchte. Unstrittig ist aber, dass er im übertragenen Sinn kränkelt: Der Mann aus dem Istanbuler Armenviertel Kasimpasa, der sich wie kein anderer Politiker in der Geschichte der modernen Türkei ein Imperium geschaffen hat, kämpft aktuell nahezu täglich ums politische Überleben.

Keiner will für ihn gestimmt haben

Umfragen zufolge sind mittlerweile acht von zehn Türken unzufrieden mit der Erdoğan-Regierung. Vorbei die Zeiten, in denen der Staatspräsident mehr als die Hälfte des Landes hinter sich versammelte, darunter selbst einen Großteil der eher linksgerichteten Intellektuellen. Einige der Denker des Landes entschuldigten sich kürzlich sogar öffentlich für ihren "Fehler".

Überhaupt will kaum jemand noch zugeben, bei Wahlen für Erdoğan gestimmt zu haben. Selbst manche Muslime, für die er mit dem politischen Islam einen Platz in der neuen Elite schuf, wenden sich ab. Der Parteichef der islamistischen Millî-Görüş-Partei Saadet stellte vor wenigen Tagen fest: "Wir sind uns nur noch in einer Sache einig. Und die ist, dass wir uns in nichts einig sind." Millî Görüş war einst die ideologische Heimat Erdoğans.

Der Hauptgrund für den Absturz des Mannes, der sich vor nicht allzu langer Zeit noch mächtiger und größer wähnte als der Republikgründer Atatürk, ist die Wirtschaft. Da geht es zwar schon seit Jahren bergab, was aber lange nicht besonders auffiel. Ein Grund: Die Menschen in der Türkei haben ein starkes soziales Netz, das verlässlicher war als das Handeln der Regierung. Freunde und Familien kamen füreinander auf, einer half dem anderen. Und wenn gerade keiner etwas zu geben hatte, zückten viele in der Türkei einfach ihre Kreditkarten. Aber so wie deren Limits nach ein paar Jahren ausgereizt sind, hält auch das stärkste soziale Netz irgendwann nicht mehr. Und irgendwann ist jetzt. Die Zahl der Menschen, die verschuldet sind, ist in den vergangenen Monaten so stark angestiegen, dass die türkische Vollstreckungsbehörde kürzlich ein zusätzliches Gebäude anmietete, um überhaupt noch Platz für alle Prozesse zu haben.

Hinzu kommt der zuletzt rasante Verfall der heimischen Währung Lira. Fast täglich verliert sie an Wert. In der vergangenen Woche waren es etwa 25 Prozent. Das schürt die Inflation, die aktuell offiziell bei 20 Prozent liegt. Ökonomen befürchten, dass sich dieser Wert in Kürze verdoppeln kann. Für die Bürger bedeutet das: Was früher selbstverständlich war, ist heute Luxus. Allein Brot ist in den 19 Jahren, die Erdogan regiert, um 900 Prozent teurer geworden, Fleisch um fast 1.200 Prozent. Die Produktionskosten sind in dem von Importen abhängigen Land zu hoch geworden. Das führt neuerdings sogar zu Rationierungen: Eine Supermarktkette hat jetzt damit begonnen, den Verkauf von Zucker und Öl zu limitieren – auf je ein Paket pro Kundin oder Kunde.

Der renommierte Ökonom Erdal Sağlam in Ankara sieht die Schuld hauptsächlich im von Erdoğan eigeführten Präsidialsystem, das ihn quasi zum Alleinregierenden machte. Auf Berater und Ökonomen höre er seitdem nicht mehr. "Außerdem hat er durch das Präsidialsystem wichtige Posten neu besetzen können, und zwar mit ihm nahestehenden Menschen – anstelle von solchen, die für den Job geeignet wären", sagt Sağlam. Erdoğans Wirtschaftspolitik folge keinem ökonomischen Plan mehr, sondern beruhe eher auf ideologischen Überzeugungen.

Zum Beispiel hält er jeder Logik zum Trotz an niedrigen Zinsen fest, was die Inflation und Wechselkurse aber in die Höhe treibt. Oder er verbilligt Kredite, um schnelles Wachstum zu generieren und die Menschen bei Laune zu halten. Das frustriert Ökonomen wie Unternehmer. Der große Verband Tüsiad, einst regierungstreu, beschwerte sich vor wenigen Tagen öffentlich über die Zinspolitik des Landes. Erdoğan wunderte sich: "Ich verstehe diese Geschäftsleute nicht. Wir sagen ihnen, dass sie sich zu niedrigen Zinsen Darlehen holen und investieren sollen. Wieso machen sie es nicht?"

Es stimmt zwar, dass Erdoğan bisher jede Krise überstanden hat. Von außen sah es sogar so aus, als sei er mit jeder Hürde, die er überwinden musste, mächtiger geworden. Von innen betrachtet ist das Gegenteil der Fall. Zwar konnte er beispielsweise das Militär, eine der wichtigsten Institutionen im Land, mit Verfassungsreformen und Verhaftungswellen entmachten. Dabei habe er aber eines unterschätzt, sagt ein Sicherheitsbeamter, der anonym bleiben will: "Die Loyalität der Beamten galt nicht ihm, sondern immer der Republik." Gemeint ist die Republik nach der Idee ihres Gründers Atatürk und der Jungtürken: laizistisch, westlich, wirtschaftsstark.

"Das Militär hat nicht vergessen"

Mit jedem Versuch, das System zugunsten seiner eigenen Macht zu demontieren, habe Erdoğan sich mehr Feinde gemacht, sagt der Beamte und gibt ein Beispiel: "Das Militär hat nicht vergessen, wie seine Generäle abgeführt wurden, wie er eine islamische Parallelarmee aufbauen und der Türkei neue, islamische Werte verpassen wollte." Dabei habe er sich so verblendet und irrational aufgeführt, dass er sich ausgerechnet dann am stärksten vorgekommen sei, als seine Macht zu bröckeln begann, glaubt der Sicherheitsbeamte. Für ihn liegt dieser Zeitpunkt bereits ein paar Jahre zurück.

Andere hochrangige Kreise in Ankara sehen das genauso. Warum man nicht schon eingeschritten sei? "Wir sind geduldig", heißt es darauf immer wieder. Geduldig und offenbar nicht untätig: Zumindest in der Politik werden klare Bewegungen sichtbar. Die Oppositionsparteien haben sich vor wenigen Tagen erstmals vereint für Neuwahlen ausgesprochen. Die Chefin der İyi -Partei (Mitte-rechts) wirbt längst damit, dass sie Ministerpräsidentin werden will – auch wenn Erdoğan diesen Posten eigentlich abgeschafft hat. Selbst sein eigener Verteidigungsminister, der General Hulusi Akar, geht am Rande von Veranstaltungen durch die Straßen des Landes und spricht mit der Bevölkerung, als sei er der nächste Staatspräsident. Gerade ihm werden inoffiziell vielfach gute Chancen eingeräumt, Erdoğan zu beerben.

Wie die Spekulationen um Erdoğans Gesundheitszustand sind das natürlich vorerst nur Beobachtungen. Fakt ist zugleich: Wären jetzt Wahlen, würde er sie verlieren. Die sind zwar erst für 2023 geplant und bis dahin kann noch vieles passieren. In Ankara sind sich aber viele in diesen Tagen sicher: So weit wird Erdoğan es nicht mehr schaffen.

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Türkei: Recep Tayyip Erdoğan spricht von »Unabhängigkeitskrieg« – Lira bricht ein

Äußerungen des türkischen Präsidenten haben den Kurs der Lira weiter auf Talfahrt geschickt. Die Währung verlor binnen wenigen Stunden mehr als acht Prozent ihres Werts.

Für viele Schwellenländer gilt: Der Wert ihrer Währungen ist oft großen Schwankungen ausgesetzt, vor allem Verschiebungen auf den weltweiten Finanzmärkten lösen mitunter rapide Kursveränderungen aus. In der Türkei ist das anders, der wichtigste Einflussfaktor auf die Lira sitzt nicht im Ausland, sondern im Inland, genauer gesagt: im Präsidentenpalast.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat – zum wiederholten Mal – mit umstrittenen Äußerungen einen massiven Kurssturz der eigenen Landeswährung ausgelöst. Die Lira verlor zwischenzeitlich acht Prozent und fiel auf ein neues Rekordtief. Für einen Dollar mussten Investoren am Dienstag bis zu 12,49 Lira bezahlen und damit so viel wie noch nie. Zur Einordnung: Zum Monatsbeginn lag die Lira zum Dollar noch unter der Marke von zehn, zu Anfang des Jahres sogar unter acht.

Erdoğan heizte die Talfahrt der Lira erneut an, indem er am Montagabend die drastischen Zinssenkungen verteidigte und versicherte, seinen »wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg« trotz der breiten Kritik gewinnen zu wollen. Damit hat die Lira in diesem Jahr bereits 40 Prozent ihres Werts verloren, davon fast 20 Prozent seit Beginn der vergangenen Woche. Erdoğan setzt die Zentralbank unter Druck, damit diese ungeachtet einer Inflation von fast 20 Prozent die Zinsen senkt. Damit will er die Exporte, Investitionen und den Arbeitsmarkt in Schwung bringen.

Der ehemalige stellvertretende Zentralbankchef Semih Tumen, der letzten Monat von Erdoğan entlassen wurde, forderte eine sofortige Rückkehr zu einer Politik, die den Wert der Lira schützt. »Dieses irrationale Experiment, das keine Aussicht auf Erfolg hat, muss sofort aufgegeben werden, und wir müssen zu einer Qualitätspolitik zurückkehren, die den Wert der türkischen Lira und den Wohlstand des türkischen Volkes schützt«, schrieb Tumen auf Twitter.

Die Zentralbank hatte ihren Leitzins vergangene Woche von 16 auf 15 Prozent gesenkt, obwohl die Inflationsrate auf fast 20 Prozent geklettert ist. Zugleich wurde für Dezember eine weitere Lockerung der Geldpolitik in Aussicht gestellt.

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Erdogan gegen Zinsanhebungen: Inflation in der Türkei steigt auf knapp 70 Prozent

Die Verbraucherpreise in der Türkei sind im April so stark gestiegen wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Gründe sind vielfach.

Auch die schwache Landeswährung Lira sorgt in der Türkei seit längerem für erheblichen Preisauftrieb..

In der Türkei zieht die Inflation auf sehr hohem Niveau weiter an. Im April stiegen die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat um knapp 70 Prozent, wie das Statistikamt am Donnerstag in Ankara bekanntgab.

Im März hatte die Inflationsrate bei rund 61 Prozent gelegen. Zum Vergleich: Die deutsche Inflationsrate lag im April bei 7,4 Prozent, was der höchsten Stand seit 1981 ist. Auf Monatssicht stiegen die Verbraucherpreise in der Türkei im April um 7,25 Prozent.

Wie erheblich der Preisdruck auf vorgelagerten Wirtschaftsstufen ist, zeigen die Erzeugerpreise. Sie stiegen im April um gut 121 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, nach knapp 115 Prozent im März. Die Erzeugerpreise liegen also mehr als doppelt so hoch wie vor einem Jahr. Die Herstellerpreise beeinflussen die Lebenshaltungskosten der Verbraucher in der Regel mittelbar und mit Zeitverzug.

Schwache Währung, niedrige Zinsen, Ukraine-Krieg: Diese Faktoren beeinflussen die Inflation

Die Inflationsrate in der Türkei wird durch mehrere Faktoren getrieben. Seit längerem sorgt die schwache Landeswährung Lira für erheblichen Preisauftrieb, da in die Türkei importierte Güter dadurch verteuert werden. Hinzu kommen erhebliche Probleme in den internationalen Lieferketten, die etwa Vorprodukte teurer werden lassen.

Auch steigen die Preise vieler Rohstoffe, nicht zuletzt wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die Preise im türkischen Transportsektor - zu dem etwa Benzin gerechnet wird - zogen mit 105,9 Prozent besonders stark an.

[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass die Inflation aufgrund des Ukraine-Kriegs noch bis Ende 2022 außergewöhnlich hoch bleiben wird: Von Reuters befragte Ökonomen rechnen im Jahresschnitt mit einer Teuerungsrate von 52 Prozent.

Sie geben der Talfahrt der Lira eine Mitschuld daran. Diese wurde ausgelöst durch Zinssenkungen der Notenbank, durch die die Landeswährung für Investoren unattraktiver wurde. Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnet sich selbst als „Zinsfeind“. Er will mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anschieben.

Die Regierung hat erklärt, dass die Inflation im Rahmen ihres neuen Wirtschaftsprogramms zurückgehen wird. Dieses sieht niedrige Zinssätze zur Ankurbelung von Produktion und Exporten vor.

Die Zentralbank hat ihren Leitzins in bislang vier Sitzungen in diesem Jahr stabil bei 14 Prozent gehalten. Dabei müsste sie nach Einschätzung der meisten Ökonomen die Zinssätze anheben, um die Währung attraktiver machen.

Die Lira hat im vergangenen Jahr 44 Prozent ihres Wertes zum Dollar eingebüßt. Die Notenbank geht davon aus, dass der Höhepunkt des Preisauftriebs im Juni erreicht wird. Einstellige Inflationsraten erwartet sie erst 2024

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Erdrückende Inflation in der Türkei: „Ich kann mir kaum noch was zu essen kaufen“

Die Inflationsrate in der Türkei liegt bei 73 Prozent – doch Präsident Erdogan behauptet, das sei kein Problem.

„Schwester, kannst du das Mikrofon ausmachen?“, bittet ein Teppichverkäufer in der Altstadt von Istanbul, bevor er sich zur Wirtschaftslage äußern mag. Wer solle ihm kleinen Mann denn helfen, wenn er eingesperrt werde, fügt er entschuldigend hinzu, wo doch selbst die prominenten Intellektuellen nicht mehr freigelassen würden.

„Wenn ich jetzt zum Beispiel sagen würde, dass Deutschland an unserer Wirtschaftsmisere schuld ist, dann wäre das in Ordnung - das könnte ich ins Mikrofon sagen.“ Die erdrückende Inflation zu beklagen und die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung zu kritisieren, das sei dagegen zu riskant .

Sein Geld reiche hinten und vorne nicht mehr, sagt der Mann, der in einem Teppichgeschäft angestellt ist. Bei 73,5 Prozent liegt die offizielle Inflation in der Türkei mittlerweile, so hoch wie seit 1998 nicht mehr. Regierungsunabhängige Experten und die Opposition werfen der Regierung vor, diese schockierende Zahl sei noch geschönt. Enag, eine Gruppe unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler, beziffert die Inflationsrate auf 160 Prozent.

Gestiegene Energiepreise und der Ukraine-Krieg heizen die Inflation auf der ganzen Welt an, doch in der Türkei kommen hausgemachte Probleme hinzu. Nach der gängigen Volkswirtschaftslehre sollte ein Land als Mittel gegen die Inflation die Leitzinsen erhöhen, um das Geld knapper zu machen, doch Präsident Recep Tayyip Erdogan ist anderer Ansicht.

Auf seine Anweisung hin hat die türkische Zentralbank die Zinsen mehrmals gesenkt und damit die Inflation und den Wertverlust der Lira beschleunigt. Die türkische Landeswährung hat seit Anfang des vergangenen Jahres die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Euro eingebüßt. Trotzdem will Erdogan die Zinsen weiter senken.

Die Bürger begehren nicht auf

Für Normalbürger geht es um mehr als um Wirtschaftstheorie. Ein Frührentner, der mit umgerechnet 150 Euro im Monat auskommen muss, zählt seine Ausgaben auf: Miete, Wasser, Strom – „da kann ich mir kaum noch was zu essen kaufen“. Der Preis für ein Laib Brot hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Nach einer Schätzung der UN haben 15 Millionen Türken nicht genug zu essen.

Besonders empfindlich ist die Krise auf Wochenmärkten wie dem Sali Pazari im Istanbuler Stadtteil Kadiköy zu spüren, wo Menschen mit geringem Einkommen ihre Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsartikel kaufen, während wohlhabende Türken in Einkaufszentren und Supermärkten shoppen wie die Deutschen.

In einer Tiefgarage werden in Kadiköy jeden Dienstag hunderte Stände aufgebaut, an denen alles von Tomaten und Käse bis zu Unterwäsche und Kinderkleidung zu einem Bruchteil der Ladenpreise feilgeboten wird. Selbst dort drehen die Käufer inzwischen jede Lira dreimal um, berichten die Händler.

Auch Benzin, Strom und Gas werden ständig teurer. Der Preisauftrieb hat sich so stark beschleunigt, dass die Entlastung durch eine Erhöhung des Mindestlohnes um 50 Prozent im vorigen Dezember schon verpufft ist. Auf die 4253 Lira des aktuellen Netto-Mindestlohns sind Millionen türkische Arbeitnehmer angewiesen. Im Dezember war die Summe noch 345 Euro wert, heute sind es noch 234 Euro.

Selbst für kleine Freuden reicht das Geld oft nicht mehr. Käse-Toast ist einer der beliebtesten Snacks der Türken. An jeder Straßenecke ist der „Kasarli Tost“ in kleinen Läden und an Kiosken zu haben. Weil sich viele Türken den Käse nicht mehr leisten können, wird der Käse-Toast inzwischen mancherorts ohne Käse angeboten: Er besteht nur noch aus Toastbrot, Ketchup und einem Stück Paprika.

Trotz der Krise begehren die Bürger nicht gegen die Regierung auf, denn viele haben Angst, wegen kritischer Äußerungen ins Gefängnis zu kommen. Ein Journalist, dessen regierungskritische Straßenumfragen im Internet millionenfach angeklickt werden, berichtet von mehr als hundert Strafverfahren, die gegen ihn selbst und befragte Bürger laufen.

Nur drei Prozent der Türken können mit ihrem Einkommen bequem leben

Anonym erhobene Umfragen lassen erahnen, wie schwer der Alltag für viele geworden ist. Demnach können nur drei Prozent der Türken mit ihrem Einkommen bequem leben. Zwei Drittel der Befragten haben große Schwierigkeiten, mit ihrem Geld bis zum Monatsende auszukommen; die anderen schlagen sich durch, oft mit Hilfe von Verwandten. Andere belasten ihre Kreditkarten immer weiter oder legen sich weitere Kreditkarten zu, um ihre Rechnungen zu bezahlen oder die Schulden bei anderen Kartenanbietern zu begleichen.

Erdogans Regierung schwankt unterdessen zwischen Schönfärberei und Notmaßnahmen. Der Präsident behauptete vor ein paar Tagen, die Türkei habe überhaupt kein Problem mit der Inflation. Es gebe lediglich ein Problem wegen steigender Lebenshaltungskosten, sagte Erdogan. Worin für die Verbraucher der Unterschied bestehen soll, behielt er für sich. Kurz darauf verfügte die Regierung eine Deckelung der Mietpreise, die bis zum nächsten Jahr nur um 25 Prozent erhöht werden dürfen.

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Inflation in der Türkei steigt auf 80 Prozent: Dies kann auch Folgen für die Zuwanderung nach Deutschland haben, zeigen Daten aus 20 Jahren

Inflation in der Türkei steigt auf 80 Prozent: Dies kann auch Folgen für die Zuwanderung nach Deutschland haben, zeigen Daten aus 20 Jahren

© Umit Turhan Coskun/NurPhoto via Getty ImagesInflation in der Türkei steigt auf 80 Prozent: Dies kann auch Folgen für die Zuwanderung nach Deutschland haben, zeigen Daten aus 20 Jahren

In der Türkei steigt die ohnehin extrem hohe Inflation weiter an. Im Juli stiegen die Verbraucherpreise zum Vorjahr um 79,6 Prozent, teilte das Statistikamt in Ankara mit. Allein innerhalb eines Monats stiegen die Verbraucherpreise um fast 2,4 Prozent.

Wie groß Preisdruck ist, zeigen auch die Erzeugerpreise. Sie stiegen im Juli um gut 144 Prozent. Sie liegen also mehr als doppelt so hoch wie vor einem Jahr. Die Herstellerpreise beeinflussen die Lebenshaltungskosten der Verbraucher in der Regel mittelbar und mit Zeitverzug.

Die Inflation in der Türkei wird durch mehrere Faktoren getrieben. Der Verfall der Landeswährung Lira verteuert importierte Güter. Die globalen Probleme in den Lieferketten machen viele Vorprodukte teurer. Hinzu kommen wie in vielen Ländern die steigenden Preise für Energie und Rohstoffen, vor allem wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Doch anders viele maßgebliche andere Zentralbanken stemmt sich die türkische Notenbank nicht mit Zinsanhebungen gegen die Teuerung. Fachleute nennen als Grund politischen Druck durch Präsident Erdogan, die Zinsen in dem hoch verschuldeten Land niedrig zu halten.

Die steigenden Preise führen zu wachsendem Unmut und auch Protesten in der Bevölkerung. Die Mischung aus Verfall der Landeswährung, extrem steigenden Preisen sowie politischen Druck nehmen vielen Menschen die Perspektive auf ein besseres Leben in der Türkei.

Inflation in der Türkei und Migration nach Deutschland

Dass dies unmittelbare Folgen für Abwanderung in andere Länder wie Deutschland haben kann, zeigen Daten aus den vergangenen 20 Jahren, auf die Ökonomen der Deutsche Bank Research aufmerksam machen. Sie verweisen auf einen Zusammenhang zwischen Inflation und Migration. In den Jahren von 2004 bis 2016, als die Inflation in der Türkei sehr niedrig war, seien netto sogar 23.000 Menschen aus Deutschland in die Türkei abgewandert. Seit die Inflation in der Türkei wieder zweistellige Raten erreichte, stieg auch die Zuwanderung nach Deutschland kräftig an. Die Türkei zählte 2021 mit einer Nettozuwanderung von 16.500 Menschen nach Deutschland wieder zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern. „Hier kann man vermuten, dass die hohe Inflation und autokratische Politik Gründe für den wieder anziehenden Wegzug aus der Türkei sind", heißt es im Deutschland-Monitor August von DB Research.

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Inflationsrate in der Türkei knackt die 80-Prozent-Marke

Istanbul, 05. Sep (Reuters) - Die Verbraucherpreise in der Türkei sind im August so stark gestiegen wie seit 24 Jahren nicht mehr. Waren und Dienstleistungen verteuerten sich um durchschnittlich 80,21 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie das Statistikamt am Montag mitteilte. Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen hatten sogar mit einer Inflationsrate von 81,2 Prozent gerechnet, nachdem sie im August noch 79,6 Prozent betragen hatte. Allein von Juli auf August erhöhten sich die Lebenshaltungskosten um 1,46 Prozent. Der Inflationsgipfel dürfte nach Prognose der Zentralbank erst im Herbst erreicht werden, und zwar mit Teuerungsraten von nahezu 90 Prozent. Umfragen zufolge glauben viele Türken der amtlichen Statistik nicht: Sie sind der Meinung, dass die Preise noch stärker steigen als offiziell ausgewiesen.

Die Transportkosten - zu denen etwa Benzin gerechnet wird - erhöhten sich im vergangenen Monat um 117 Prozent. Lebensmittel und alkoholfreie Getränke verteuerten sich um mehr als 90 Prozent. Auch für Möbel und Haushaltsgeräte mussten die Verbraucher tiefer in die Taschen greifen: Sie kosteten durchschnittlich 92 Prozent mehr als im August 2021.

Grund für die aktuell stark steigenden Preise sind vor allem die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine, durch den viele Rohstoffe deutlich teurer geworden sind. Die steigende Inflation ist aber auch eng verbunden mit der schwächelnden Lira: Die Landeswährung hat im vergangenen Jahr 44 Prozent an Wert zum Dollar verloren, in diesem Jahr bislang weitere 27 Prozent. Grund dafür ist, dass die Zentralbank ihren Leitzins seit vergangenem Herbst schrittweise von 19 auf aktuell 14 Prozent gesenkt hat, obwohl die ökonomischen Lehrbücher bei stark steigenden Preisen eigentlich Zinserhöhungen empfehlen. Sinkende Zinsen machen eine Währung für Anleger unattraktiver. Die schwache Lira wiederum verteuert Importe, auf die die rohstoffarme Türkei angewiesen ist.

Präsident Recep Tayyip Erdogan will mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anschieben. Die Inflationsrate soll nach einer Vorhersage der Regierung bis Jahresende auf 65 Prozent zurückgehen. Bis Ende 2023 dürfte sie dann auf knapp 25 Prozent fallen, hieß es in einer am Sonntag veröffentlichen Prognose.

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Türkei und Griechenland: Erdoğan pocht auf »neutrale Haltung« von Deutschland

In der Krise zwischen Griechenland und der Türkei hat sich Kanzler Scholz zuletzt auf die Seite Athens gestellt. Der türkische Präsident reagierte darauf nun bei einem Anruf – mit einer Forderung.

Türkei und Griechenland: Erdoğan pocht auf »neutrale Haltung« von Deutschland

Türkei und Griechenland: Erdoğan pocht auf »neutrale Haltung« von Deutschland© UMIT BEKTAS / REUTERS

Die Türkei verbittet sich offenbar deutsche Einmischungen in den diplomatischen Konflikt mit Griechenland. Wie das türkische Kommunikationsministerium mitteilte, habe Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einem Anruf mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine »neutrale Haltung« von Deutschland gefordert.

Die Beziehungen zum Nachbarn Griechenland sind derzeit extrem angespannt. Die Türkei erhebt Ansprüche auf griechisches Territorium in der Ägäis und argumentiert, Athen verstoße mit der Militarisierung von Inseln in der Region gegen internationale Verträge. Zuletzt hatte Griechenland auch deutsche Schützenpanzer an der Landgrenze zur Türkei stationiert.

Griechenland begründet die Schritte mit einer Bedrohung durch Ankara und dem Recht auf Selbstverteidigung. Erdoğan hatte Griechenland zuletzt wiederholt mit dem Satz gedroht: »Wir könnten plötzlich eines Nachts kommen.« Türkische Kampfjets dringen nach Angaben Athens zudem immer wieder in den griechischen Luftraum ein – die Streitkräfte der beiden Nato-Partner kommen sich dabei immer wieder gefährlich nah.

Scholz hatte Griechenland bei seinem Antrittsbesuch in Athen zuletzt gegen die Drohungen der Türkei in Schutz genommen. Griechenland hatte auch entschieden, die ersten sechs im Zuge eines Ukraine-Ringtauschs gelieferten deutschen Marder-Schützenpanzer an der Grenze zur Türkei zu stationieren.

Erdoğan will EU-Beitrittsverhandlungen wiederbeleben

Erdoğan habe in dem Telefonat mit Scholz nun zudem angeregt, den Dialog zwischen Ankara und der Europäischen Union, die Gespräche über die Aktualisierung der Zollunion und die Beitrittsverhandlungen wiederzubeleben. Die 2005 begonnenen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei liegen bereits seit mehreren Jahren wegen der aus Brüsseler Perspektive unbefriedigenden Entwicklungen in dem Land auf Eis.

In der Erklärung des deutschen Regierungssprechers Steffen Hebestreit zu dem Telefonat war Erdoğans Forderung hinsichtlich Griechenland kein Thema – dort hieß es nur, der Kanzler und der türkische Präsident hätten sich über die »Lage in der Region« ausgetauscht.

Von türkischer Seite hieß es zudem, es seien die jüngsten Entwicklungen im Ukrainekrieg diskutiert worden. Nähere Angaben machte das Kommunikationsministerium jedoch nicht.

Scholz lobte laut Regierungssprecher Hebestreit den Einsatz der Türkei zur Fortsetzung der ukrainischen Getreideexporte über das Schwarze Meer. Der Kanzler wies demnach erneut die russischen Anschuldigungen zurück, dass die Ukraine den Einsatz einer radioaktiven »schmutzigen Bombe« vorbereite. »Der Bundeskanzler und der türkische Staatspräsident waren sich einig, dass Russlands nukleare Rhetorik unverantwortlich sei«, erklärte Hebestreit.

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Türkei: Inflationsrate steigt auf knapp 86 Prozent, doch Recep Tayyip Erdoğan will Zinsen weiter senken

Es ist kaum zu glauben: Während die Inflationsrate in der Türkei auf einen neuen Höchststand steigt, will Staatschef Recep Tayyip Erdoğan die Zinsen weiter senken. Dabei gehen unabhängige Experten davon aus, dass die Teuerung in seinem Land eigentlich sogar doppelt so hoch ist.

Türkei: Inflationsrate steigt auf knapp 86 Prozent, doch Recep Tayyip Erdoğan will Zinsen weiter senken

Türkei: Inflationsrate steigt auf knapp 86 Prozent, doch Recep Tayyip Erdoğan will Zinsen weiter senken© ADEM ALTAN / AFP

Der Anstieg der Verbraucherpreise in der Türkei hat im Oktober einen neuen Rekord erreicht. Die Inflation legte im Jahresvergleich nach offiziellen Angaben um 85,51 Prozent zu. Das ist der höchste Anstieg seit 1997; damals lag die Inflation bei 85,67 Prozent. Unabhängige Experten zweifeln allerdings die offiziellen Zahlen an; ihren Berechnungen zufolge beträgt die Inflationsrate 185 Prozent im Jahresvergleich. Seit Januar belaufe sich der Wert auf 115 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland kletterte die Inflationsrate zuletzt auf 10,4 Prozent.

In der Türkei hatte der Anstieg der Verbraucherpreise mit Beginn der Jahrtausendwende begonnen. Ende 2021 hatte die Teuerung nur bei etwa 20 Prozent gelegen. Doch in den vergangenen Monaten wurde die Entwicklung durch die unorthodoxe Geldpolitik der Zentralbank verstärkt.

Die Zentralbank senkte den Leitzins nach einer fast achtmonatigen Pause im August, September und im Oktober ab, er liegt jetzt bei 10,5 Prozent. Parallel verlor die türkische Lira im Vergleich zum Dollar und Euro deutlich an Wert, was die Kaufkraft der Menschen in der Türkei zusätzlich schwächt, denn viele Waren muss die Türkei importieren. Hinzu kommen anhaltende Probleme in den internationalen Lieferketten, die Vorprodukte teurer machen. Zudem steigen die Preise von Energie und Rohstoffen, vor allem wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine.

Erzeugerpreise um fast 158 Prozent gestiegen

Wie stark der Preisdruck derzeit ist, zeigen vor allem die Erzeugerpreise, die im Oktober um 157,7 Prozent im Jahresvergleich gestiegen sind. Die Erzeugerpreise erfassen die Preise auf Herstellerebene, indem sie die Verkaufspreise der Produzenten abbilden. Die Jahresrate der Erzeugerpreise ist mehr als doppelt so hoch wie vor einem Jahr. Herstellerpreise beeinflussen die Lebenshaltungskosten der Verbraucher mittelbar und mit Zeitverzug.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (68) weist die gängige Lehrmeinung zurück, dass Zentralbanken bei hoher Inflation die Zinsen anheben sollten. Die Zentralbank ist eigentlich unabhängig, aber seit 2019 hat Erdoğan drei Chefs des Instituts gefeuert. Kürzlich kündigte er an, die Zinsen würden weiter sinken, "solange ich an der Macht bin".

Wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl setzt Erdoğan wirtschaftspolitisch voll auf Wachstum. Die Inflation zwingt Bürger und Unternehmen zu erhöhtem Konsum, weil ihr Geld ansonsten massiv an Wert verliert.

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"Die türkische Regierung kämpft ums Überleben"

Was bezweckt die Türkei mit der neuen Offensive in Syrien? Für Nahost-Experte Daniel Gerlach setzt Erdoğan damit eine klare Botschaft an mehrere Lager.

Recep Tayyip Erdoğan hatte eine klare Botschaft: "Sobald wie möglich werden wir, so Gott will, zusammen mit unseren Panzern, Soldaten und Weggefährten, alle ausrotten", sagte der türkische Präsident am Dienstag mit Blick auf die begonnene Offensive gegen kurdische Stellungen in Syrien und dem Irak. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte da gerade noch um Zurückhaltung bei ihrer Reise nach Ankara zu ihrem türkischen Amtskollegen geworben.

Am Wochenende hatten die türkischen Streitkräfte ihre fünfte Offensive auf ihr Nachbarland begonnen. Zuvor war es in Istanbul zu einem Anschlag gekommen, für den die Regierung die Kurdenmiliz YPG und die verbotene Arbeiterpartei PKK verantwortlich macht – auch wenn beide Gruppen das von sich weisen.

Viele sehen in der Offensive nur ein fadenscheiniges Manöver, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Nahost-Experte Daniel Gerlach hält die Strategie der türkischen Regierung dagegen für effektiv. Im Gespräch mit t-online erklärt er, welches Zeichen Erdoğan damit innenpolitisch setzt, warum die Bundesregierung an der jetzigen Situation wenig ändern kann und ob der türkische Präsident die Wahlen im kommenden Jahr verlieren könnte.

t-online: Wie glaubhaft ist es, dass eine der beiden kurdischen Organisationen für den Anschlag verantwortlich ist?

Daniel Gerlach: Ausschließen kann man das nicht. Aber die Verantwortung der Gruppen scheint weder erwiesen noch wirkt sie auf mich besonders wahrscheinlich. Vielmehr ist die Geschwindigkeit, mit der die türkische Regierung hier ein Narrativ zur Hand hat und angeblich lückenlos Beweise präsentiert, bemerkenswert.

Wie meinen Sie das?

Binnen Stunden nach einem Anschlag an einem der bestbewachten öffentlichen Plätze der Türkei war die vermeintliche Täterin identifiziert, ihre angebliche Einreise aus Syrien rekonstruiert, die Drahtzieher ermittelt. Daraus wurde dann der Anspruch abgeleitet, die türkische Regierung müsse den Antiterrorkrieg in Syrien fortsetzen. Dabei wurde auch speziell auf Kobani verwiesen, also einen der wenigen Abschnitte an der türkisch-nordsyrischen Grenze, welche die Türkei bisher nicht kontrolliert. Die Ermittlungen passten jedenfalls ideal zu den politischen Prioritäten.

Erdoğan hat eine solche Offensive ohnehin schon lange geplant. Der Anschlag scheint nun ein geeigneter Vorwand zu sein.

Man hat schon im vergangenen Frühsommer eine größere Militäroperation angekündigt. Die wurde dann aber nicht vollumfänglich umgesetzt. Gleichzeitig muss man sagen: Die Türkei benötigt eigentlich keinen Vorwand, um militärisch in Syrien tätig zu werden. Sie hat bereits mehrere Feldzüge dort durchgeführt.

(Quelle: A. Emami)

Zur Person

Daniel Gerlach, geboren 1977, ist Orientalist, Experte für den Nahen Osten und Chefredakteur des deutschen Fachmagazins "Zenith". Daneben hat er mehrere Bücher zum Nahen Osten verfasst.

Es ist auch ein wiederkehrendes Muster: Erdoğan lenkt mit außenpolitischen Aktionen von innenpolitischen Problemen ab. Aktuell ist die Inflation extrem hoch, seine Umfragewerte stehen schlecht, und nächstes Jahr stehen Wahlen an.

Wir denken in Deutschland gerne, dass solche Manöver nicht funktionieren, nur weil sie durchsichtig wirken. Im Gegenteil: Was Erdoğan tut, ist ziemlich effizient. Seine größte Gefahr kommt innenpolitisch gerade von rechts. Eine potenzielle Allianz von mehreren Politikern bedroht seine Macht. Diese Allianz verfolgt in der Kurdenfrage allerdings dieselben Ziele wie er – von Nuancen abgesehen. Bisher hat der Präsident seinen Umgang mit der Kurdenfrage genutzt, um die linken, die prokurdischen und die nationalistischen Lager zu spalten. Mit einem Schlag gegen kurdische Milizen in Nordsyrien sendet er auch ein Zeichen an seine Anhänger: Dass er sich von den USA und dem Westen, die ihn davon abhalten wollten, angeblich nichts sagen lässt.

Das hat nun auch Nancy Faeser gespürt: Die Innenministerin hatte bei ihrem Besuch an diesem Dienstag die Türkei um Zurückhaltung gebeten. Danach deutete Erdoğan erneut an, dass es bald zu einer Bodenoffensive kommen könnte, mit der er kurdische Milizen "ausrotten" will.

Wenn die Bundesregierung die türkische Führung gütlich stimmen will, kann sie Geld, Visafreiheit für türkische Bürger oder bessere Handelsbeziehungen mit der EU in Aussicht stellen. Letztendlich hat Deutschland in der jetzigen Lage aber wenig in der Hand. Die türkische Regierung kämpft ums Überleben, die türkische Bevölkerung sowieso. Und mit dem Innenminister Süleyman Soylu hat Erdoğan einen ausgewiesenen Hardliner im Kabinett, der Europa und die USA nach eigenem Bekunden nicht sehr respektiert.

Deutschland ist wegen des Flüchtlingsabkommens weiter auf die Türkei angewiesen. Macht das unsere Regierung nicht erpressbar?

Die Türken haben immer mal wieder ins Spiel gebracht, dieses und andere Abkommen aufzukündigen. Letztendlich haben sie sich aber immer an internationale Abmachungen gehalten, auch wenn sie rhetorisch den gegenteiligen Eindruck erweckten. Die Regierung in Ankara steht massiv unter Druck, nicht zuletzt weil die Stimmung gegenüber den Syrern und anderen Vertriebenen im Land angesichts der wirtschaftlichen Lage extrem kritisch ist.

Schwierigkeiten bereitet die Türkei auch Schweden und Finnland: Erdoğan blockiert seit einigen Monaten den Nato-Beitritt der beiden Länder, weil er von den Staaten mehr Härte gegen angebliche PKK- und YPG-Anhänger fordert. Beide Regierungen sind bereits auf die Türkei zugegangen.

Als die Nato gegründet wurde, sollte sie ein Gegengewicht zum kommunistischen Block bilden. Da war man froh, dass die Türkei dabei war. Es hätte damals wohl niemand für möglich gehalten, dass eines Tages in einer so brenzligen Lage ein Mitglied den Beitritt anderer Staaten aus politischen Gründen blockieren könnte – obwohl der Beitritt die Allianz ja stärkt.

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Erdoğan und Wladimir Putin bei einem Treffen in Kasachstan: Der türkische Präsident ist seit dem Ukraine-Krieg auch als Vermittler zwischen den verschiedenen Seiten tätig. (Quelle: Vyacheslav Prokofyev/imago images)

Vielleicht wird auch in unserer Lage häufig unterschätzt, wie viel Macht die Türkei in dem Bündnis hat und dass sie dementsprechend auch Forderungen stellt.

Die Erweiterung ist für die Nato von übergeordnetem Interesse. Und nach den USA hat die Türkei zahlenmäßig die zweitgrößte Armee in der Nato. Auch wenn sie sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen hat, kann man nicht sagen, dass die Türkei einfach nur opportunistisch sei oder gar russische Interessen bediene. Ankara hat etwa russische Truppentransporte durch türkische Meerengen eingeschränkt. Außerdem hat die Türkei als Erstes gemeinsam mit der Ukraine Kampfdrohnen entwickelt und Material geliefert. Die türkische Regierung findet natürlich, dass ihr Einsatz im Westen nicht gewürdigt wird.

Erdoğan will sich auch als Vermittler zwischen dem Westen, der Ukraine und Russland hervortun. Wie bedeutend ist seine Rolle in diesem Zusammenspiel?

Denken Sie an die Verhandlungen um die ukrainischen Getreideexporte. Viele haben damals gedacht, dass die türkische Regierung der falsche Vermittler sei. Aber sie haben es hingekriegt, weil sie damit große eigene Interessen verbinden. Erdoğan hat Macht und wird von anderen Machtmenschen respektiert. Die Idee seiner Politik ist eben: Maximaler Druck und maximale Aggressivität – damit kommt man durch. Er ist kein Spieler der leisen Töne.

Trotzdem ist sein Image im Land schlecht. Halten Sie es für realistisch, dass er 2023 tatsächlich abgewählt werden könnte?

Im kommenden Jahr feiert die Türkische Republik ihr hundertjähriges Bestehen. Da möchte Erdoğan auf jeden Fall derjenige sein, der neben Atatürk als größter Politiker des Landes gilt. Erdoğan wird alles für seinen Triumph tun, Erlaubtes oder, wenn nötig, Verbotenes. Trotzdem ist eine Abwahl möglich. Die Chancen stehen ähnlich gut wie bei Donald Trump in den USA vor zwei Jahren. Das Problem der Opposition ist aber, dass sie bisher niemanden nominiert haben, der Erdoğan wirklich die Stirn bietet.

Würde seine Ablösung friedlich verlaufen?

Es könnte sein, dass Erdoğan es wie Trump macht und die Wahl nicht anerkennt; anders als in den USA sind die türkischen Institutionen nur vielleicht nicht so stabil, das auszuhalten. Das kann heute niemand wissen. Aber die internationale Gemeinschaft sollte sich auf ein solches Szenario vorbereiten. Gegen Erdoğan und seine Familie wird auch in mehreren Verfahren etwa wegen Korruption ermittelt. Wenn er verliert, könnte er also nicht nur in den Ruhestand gehen, sondern sich mit der Justiz auseinandersetzen müssen. Das steigert den Mut zum Risiko.

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