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Türkischer Währungs- Absturz

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Das sind die aktuellen Umfragen zur Türkei-Wahl 2023

Das sind die aktuellen Umfragen zur Türkei-Wahl 2023

Am 14. Mai werden in der Türkei Parlament und Präsident neu gewählt. Hier finden Sie die wichtigsten Umfragen zu den Wahlen.

Berlin - Das Jahr 2023 steht in der Türkei ganz im Zeichen der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai. Rund 64 Millionen Türkinnen und Türken sind dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben und über die politische Zukunft der Türkei zu entscheiden.

Wer aber hat die besten Chancen bei der Türkei-Wahl? Die Umfragen machen jedenfalls deutlich, dass das Rennen wohl so spannend wird wie schon lange nicht mehr. So gelten die Wahlen vor allem als Bewährungsprobe für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der seit 20 Jahren an der Macht ist. Erstmals gilt er nicht als klarer Favorit. Vielleicht auch deshalb spricht Erdogan von einer „Schicksalswahl“.

Umfragen vor der Türkei-Wahl deuten auf enges Rennen hin

Erdogan tritt mit seiner islamisch-konservativen AKP im Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP und der kleinen nationalistisch-religiösen BBP an („Volksallianz“). Ein Teil der Opposition hat sich zu einem Bündnis („Sechser-Tisch“) zusammengeschlossen, zu dem unter anderem die größte Oppositionspartei CHP, die nationalkonservative Iyi-Partei sowie DEVA, GP, DP und SP gehören.

Das sind die aktuellen Umfragen zur Türkei-Wahl 2023

Das sind die aktuellen Umfragen zur Türkei-Wahl 2023© Bereitgestellt von FR

Foto © IMAGO / ZUMA Wire

Das Bündnis gegen Erdogan wäre allerdings an der Frage des Präsidentschaftskandidaten fast zerbrochen. Doch inzwischen steht fest, dass Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu gegen Amtsinhaber Erdoğan antreten wird. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP gehört keinem dieser Bündnisse an und hat bereits angekündigt, bei der Präsidentschaftswahl einen eigenen Kandidaten aufzustellen.

Türkei-Wahl: die Bündnisse

  • „Volksallianz“: Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), Büyük Birlik Partisi (BBP)
  • „Sechser-Tisch“: Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), İyi Parti (İyi), Demokrasi ve Atılım Partisi (Deva), Gelecek Partisi (GP), Demokrat Parti (DP), Saadet Partisi (SP)

Türkei-Wahl: Aktuelle Umfragen zur Präsidentenwahl

Die Wahlen in der Türkei gelten als echte Bewährungsprobe für Erdoğan. Das Land kämpft mit massiver Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Nach den schweren Erdbeben im Februar wurde zudem Kritik am Krisenmanagement der Regierung laut.

Tatsächlich deuten die ersten Umfragen vor der Präsidentschaftswahl auf einen Sieg des Oppositionskandidaten hin. Der Vorsprung des Herausforderers beträgt derzeit mehr als zehn Prozentpunkte.

Institut Erdoğan Kılıçdaroğlu
Aksoy 44,4 % 55,6 %
Piar 42,9 % 57,1 %
ALF 44,9 % 55,1 %
ORC 43,2 % 56,8 %

(Quellen: Aksoy, Piar, ALF, ORC)

Türkei-Wahl: Aktuelle Umfragen zur Parlamentswahl

Auch bei den Umfragen zur Parlamentswahl in der Türkei sieht es für die „Volksallianz“ derzeit nicht gut aus. Zwar liegt die AKP von Präsident Erdoğan in den meisten Erhebungen vorne, von der absoluten Mehrheit ist sein Bündnis aber weit entfernt. Die Umfragen im Überblick:

Türkei-Wahl: Aktuelle Aksoy-Umfrage

Die aktuelle Umfrage von „Aksoy Araştırma“ sieht die AKP an erster Stelle, allerdings ist die „Volksallianz“ von einer absoluten Mehrheit weit entfernt. Für die Umfrage wurden am 8. März insgesamt 1.537 Wahlberechtigte befragt.

Zahlen der „Volksallianz“

Partei Prozent
AKP 31,0 %
MHP 7,2 %
BBP -
Gesamt 38,2 %

Zahlen des „Sechser-Tisches“

Partei Prozent
CHP 28,4 %
İYİ 12,0 %
Deva 1,4 %
GP 0,9 %
SP 1,4 %
DP -
Gesamt 44,1 %

Weitere Parteien

Partei Prozent
HDP 10,3 %
TİP 1,1 %
Sonstige 6,3 %

Türkei-Wahl: Aktuelle Piar-Umfrage

Das Meinungsforschungsinstitut „Piar Araştırma“ sieht in seiner aktuellen Umfrage die CHP knapp vor der AKP. Für die Umfrage wurden im März insgesamt 1.460 Wahlberechtigte befragt.

Zahlen der „Volksallianz“

Partei Prozent
AKP 30,8 %
MHP 7,1 %
BBP -
Gesamt 37,9 %

Zahlen des „Sechser-Tisches“

Partei Prozent
CHP 32,3 %
İYİ 8,3 %
Deva 2,1 %
GP 3,7 %
SP -
DP -
Gesamt 46,4 %

Weitere Parteien

Partei Prozent
HDP 11,6 %
BTP 1,8 %
Sonstige 2,3 %

Türkei-Wahl: Aktuelle ALF-Umfrage

Das Meinungsforschungsinstitut „ALF Araştırma“ sieht in seiner aktuellen Umfrage die CHP knapp vor der AKP. Für die Umfrage wurden vom 6. bis 7. März insgesamt 1.770 Wahlberechtigte befragt.

Zahlen der „Volksallianz“

Partei Prozent
AKP 31,0 %
MHP 6,5 %
BBP -
Gesamt 37,5 %

Zahlen des „Sechser-Tisches“

Partei Prozent
CHP 31,8 %
İYİ 8,9 %
Deva 1,5 %
GP 1,3 %
SP -
DP -
Gesamt 43,6 %

Weitere Parteien

Partei Prozent
HDP 11,3 %
MP 2,2 %
YRP 1,9 %
ZP 1,6 %
Sonstige 2,0 %

Türkei-Wahl: Aktuelle ORC-Umfrage

Eine aktuelle Umfrage von „ORC Araştırma“ sieht das Oppositionsbündnis ebenfalls deutlich vor der „Volksallianz“. Für die Umfrage wurden vom 17. bis 21. Februar insgesamt 4.720 Wahlberechtigte befragt.

Zahlen der „Volksallianz“

Partei Prozent
AKP 29,1 %
MHP 5,4 %
BBP 1,5 %
Gesamt 36,0 %

Zahlen des „Sechser-Tisches“

Partei Prozent
CHP 23,5 %
İYİ 19,5 %
Deva 2,3 %
GP 2,5 %
SP -
DP -
Gesamt 47,8 %

Weitere Parteien

Partei Prozent
HDP 8,1 %
MP 1,3 %
YRP 1,0 %
ZP 2,0 %
TDP 1,8 %
Sonstige 2,0 %

Glauben Sie, dass Erdoğan erneut zum Präsidenten gewählt wird?

So verlief die Türkei-Wahl 2018

Bei der Parlamentswahl 2018 verlor die regierende AKP zwar ihre Mehrheit, konnte dies jedoch mit den Sitzen der MHP kompensieren. Die größte Oppositionspartei CHP musste ebenfalls einen Rückgang der Stimmen hinnehmen. Die zuvor neu gegründete IYI schaffte ebenso den Einzug ins Parlament, wie die HDP.

Bei der Präsidentschaftswahl konnte sich Amtsinhaber Erdoğan in der ersten Runde mit 52,6 Prozent der Stimmen durchsetzen.

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Türk:innen in Europa

Mindestens 1,9 Millionen türkische Staatsbürger leben laut Statistischem Amt der Europäischen Union in Europa. Alleine in Deutschland haben aktuell rund 1,3 Millionen Türk:innen ihren Wohnsitz. Dahinter folgen mit deutlichem Abstand Frankreich und Österreich. Für die Politker:innen im Heimatland stellt die türkische Auslandsgemeinde eine wichtige Wähler:innengruppe da. Das gilt auch für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai. Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger:innen endet die Abstimmungsfrist indes bereits am 9. Mai. Wie bei früheren Urnengängen dürften sie auch dieses Mal eher regierungstreu wählen. Bei der letzten Parlamentswahl 2018 kam die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geführte Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) auf über 50 Prozent der Stimmen.

Die Grafik zeigt die Anzahl der Menschen mit türkisches Staatsbürgerschaft in Europa.

Anzahl der Menschen mit türkisches Staatsbürgerschaft in Europa

Anzahl der Menschen mit türkisches Staatsbürgerschaft in Europa© Bereitgestellt von Statista
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„Schwer erträglich“– Sorge um Spaltung unter Deutsch-Türken

Knapp 65 Prozent für Erdogan

„Schwer erträglich“– Sorge um Spaltung unter Deutsch-Türken

Präsident Recep Tayyip Erdogan buhlt um Stimmen von Auslandstürken.

Präsident Recep Tayyip Erdogan buhlt um Stimmen von Auslandstürken.© imago stock&people via http://www.imago-images.de

Eine halbe Million Deutsch-Türken haben Erdogan gewählt. Das Wahlverhalten bereitet Sorgen. Die Union kritisiert die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts.

Düsseldorf/Berlin – Serkan Sayin lebt in Westfalen, weit entfernt von der Türkei – und doch geht ihm das Wahlergebnis sehr nahe. Der 51-Jährige ist enttäuscht, ratlos, versteht vor allem den erneut hohen Zuspruch für Präsident Recep Tayyip Erdogan unter den Auslandstürken nicht. In Deutschland holte der Amtsinhaber 67 Prozent – insgesamt kam er bei der Stichwahl auf 52 Prozent. „Ich begreife das nicht. Die Menschen, die hier frei in einer Demokratie leben, zwingen die Menschen in der Türkei, unter einer Autokratie zu leiden“, sagt Sayin aus Ahlen.

Sorge um größere Spaltung unter Deutsch-Türken nach Türkei-Wahl

Allerdings bedeuten die 67 Prozent der Wählerstimmen keinesfalls, dass bundesweit zwei Drittel aller Türkeistämmigen hinter Erdogan stehen. Sayin etwa hat sich schon vor gut 20 Jahren für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden und ist ohne türkischen Pass nicht wahlberechtigt.

Er meint: „Dass Leute über die politischen Verhältnisse in der Türkei mitbestimmen, obwohl sie in anderen Ländern leben und arbeiten, ist der falsche Weg.“ Er befürchtet, dass der Graben zwischen Anhängern und Kritikern Erdogans hierzulande tiefer wird. Tatsächlich herrscht Feierlaune auf der einen Seite, es gab Autokorsos, lauten Jubel. Andernorts sind der Frust und die Sorgen unter den Deutsch-Türken groß.

Streit um neues Staatsbürgerschaftsrecht

Die Union sieht sich durch die Jubelfeiern in ihrer Ablehnung des geplanten neuen Staatsbürgerschaftsrechts bestätigt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Thorsten Frei, sagte: „Die Pläne von Innenministerin Nancy Faeser erhöhen das Risiko, dass mehr Menschen eingebürgert werden, die nicht ausreichend integriert sind.“ Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat ein Umdenken bei der doppelten Staatsbürgerschaft gefordert.

„Die Heuchelei, die hier seitens der Grünen zum Ausdruck kommt, ist unerträglich“, sagte der CSU-Politiker. Auf der einen Seite kritisierten Grünen-Politiker wie Bundesagrarminister Cem Özdemir das Wahlverhalten von Türken in Deutschland. Zugleich sorgten sie aber durch die geplante Reform dafür, „dass doppelte Staatsbürgerschaften zunehmen und künftig viele Eingebürgerte das zweifache Wahlrecht genießen: Einmal Erdogan in der Heimat wählen und Özdemir bei den Bundestagswahlen“.

500.000 Deutsch-Türken haben für Erdogan gestimmt

Die Bundesregierung hatte sich jüngst auf ein neues Staatsbürgerschaftsrecht geeinigt. Kern sind kürzere Mindestaufenthalte für Einbürgerungen – statt acht Jahren sollen fünf Jahre reichen, bei besonderen Integrationsleistungen auch nur drei.

Die Ampel-Fraktionen sehen aber keinen Grund, an der geplanten Reform zu rütteln. Die Grünen-Innenexpertin Lamya Kaddor bezeichnete das „hohe Wahlergebnis von knapp 65 Prozent für Erdogan unter den Deutsch-Türken für die türkische Opposition, aber auch die türkische Diaspora schwer erträglich“. Doch nur die Hälfte der 3,5 Millionen Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund sei wahlberechtigt – und nur jeder Zweite sei letztlich zur Wahl gegangen.

Gut 500 000 Deutsch-Türken haben für Erdogan gestimmt. Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland (TDG) stellt klar, dass das – ausgehend von drei Millionen Türkeistämmigen – nur etwa 17 Prozent sind. Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien sagt: „Wir wissen nicht, wie die anderen ticken, die nicht gewählt haben oder die nicht wahlberechtigt sind.“

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Inflation in der Türkei sinkt im Wahlmonat Mai auf 39,6 Prozent

Istanbul. Im Wahlmonat Mai ist in der Türkei die Inflation leicht gesunken, die Währung fällt auch. Fachleute hatten weitgehend mit diesem Rückgang gerechnet.

Türkische Lira Banknoten. (Symbolbild)

Türkische Lira Banknoten. (Symbolbild)

Die Inflation in der Türkei ist im Wahlmonat Mai leicht gesunken. Die Jahresteuerung lag bei 39,6 Prozent nach 43,7 Prozent im April, wie am Montag aus Daten des Statistikamts hervorging. Trotz der anhaltend hohen Inflation und schwächelnden Wirtschaft hat Staatschef Recep Tayyip Erdogan jüngst die Stichwahl um das Präsidentenamt gewonnen. Die Regierung hatte vor der Wahl versprochen, im Mai kostenloses Gas zur Verfügung zu stellen. Fachleute hatten weitgehend mit diesem Rückgang gerechnet. Die Inflation wurde durch eine Währungskrise Ende 2021 angeheizt und erreichte im vergangenen Oktober mit 85,5 Prozent einen 24-Jahres-Rekord.

Die türkische Währung Lira rutschte am Montag bei schwachem Handel in Asien unter die 21-Dollar-Marke. Dies gilt auch als eine der ersten wackeligen Reaktionen auf die Ernennung des hoch angesehenen Mehmet Simsek zum Finanzminister. Simsek hatte am Sonntag eine Rückkehr seines Landes zu „rationalen Grundlagen“ in der Wirtschafts- und Finanzpolitik angekündigt.

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Lira im Sinkflug

Gegenüber Euro und Dollar verliert die türkische Lira immer weiter an Wert.

Gegenüber Euro und Dollar verliert die türkische Lira immer weiter an Wert.© picture alliance / ZUMAPRESS.com

Präsident Erdogan kann die Abwertung der türkischen Währung nicht aufhalten. Profitieren deutsche Reisende vom Verfall?

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan steht nach dem Wahlsieg von Ende Mai im Zenit seiner Macht. Doch die Landeswährung Lira kennt nur eine Richtung: Sie fällt und fällt. Seit Jahresbeginn hat sie gegenüber dem Euro 22 Prozent ihres Werts verloren. Wird der Türkei-Urlaub jetzt billiger? Nicht unbedingt.

Vor einem Jahr musste man in den türkischen Wechselstuben für eine blaue 100-Lira-Banknote 5,70 Euro bezahlen. Aktuell gibt es den Geldschein mit dem Konterfei des Staatsgründers Atatürk schon für 3,90 Euro. Die Abwertungsspirale verteuert Importwaren, auf die die türkische Wirtschaft in hohem Maß angewiesen ist. Auch die Öl- und Gasimporte werden teurer. Das wiederum treibt die Inflation, entwertet also das Geld weiter – ein Teufelskreis. Die Inflation liegt offiziell bei knapp 40 Prozent. Regierungsunabhängige Ökonom:innen der Forschungsgruppe Enag beziffern die tatsächliche Teuerung allerdings auf mehr als 100 Prozent.

Als Ursache der Währungskrise gilt die eigensinnige Geldpolitik des Staatschefs. Erdogan, der nach eigenen Angaben Volkswirtschaft studiert haben will, vertritt die unorthodoxe These, dass man die Inflation am besten mit Zinssenkungen bekämpft – im Gegensatz zur gängigen Praxis, wonach Notenbanken die Zinsen anheben, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Erdogan hat allerdings nach der Wahl mit Mehmet Simsek einen konventionell denkenden Wirtschaftswissenschaftler zum neuen Finanzminister ernannt und eine Bankerin aus den USA an die Spitze der Notenbank berufen. Damit kündigt sich eine Wende in der Geldpolitik an. Trotzdem fiel die Lira in den drei Wochen seit Erdogans Wiederwahl um rund 16 Prozent. An diesem Donnerstag will die Zentralbank über den Leitzins beraten. Dann wird man wissen, ob die geldpolitische Wende tatsächlich kommt.

Die Lira-Abwertung hat eine positive Seite: Sie verbilligt Exporte und macht damit die türkische Industrie international wettbewerbsfähiger. Das gilt grundsätzlich auch für die Reisebranche. Dennoch haben sich Pauschalreisen gegenüber dem Vorjahr nicht spürbar verbilligt. Denn die Reiseveranstalter haben die meisten Verträge für dieses Jahr bereits im Herbst 2022 ausgehandelt. Auch Einzelreisende sparen nicht unbedingt, weil viele türkische Hotels ihre Preise in Dollar oder Euro auszeichnen. Marktbeobachter:innen erwarten wegen der großen Nachfrage sogar steigende Preise für den Sommer und Herbst. Das ist auch den gestiegenen Flugkosten geschuldet. Die Tickets für Türkei-Flüge haben sich gegenüber dem Vorjahr um 40 bis 60 Prozent verteuert. Wer in diesem Jahr auf Last-Minute-Schnäppchen hofft, könnte also enttäuscht werden.

Sparen können Türkei-Urlauber:innen aber dennoch. Beim Essen in Restaurants außerhalb der Hotels oder auch beim Einkaufsbummel im Basar bekommen sie mehr für ihre Euro und Dollar. Devisen sind wegen der schwächelnden Lira als Zahlungsmittel gefragt. Man sollte aber darauf achten, dass man einen fairen Wechselkurs bekommt. Auch Selbstversorger:innen, die eine Ferienwohnung mieten, profitieren von der Abwertung. Zwar haben sich viele Lebensmittelpreise in der Türkei im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Gemüse, Obst und Grundnahrungsmittel sind vor Ort aber immer noch billiger als in Deutschland.

Unter dem Strich: Der Türkei-Urlaub verbilligt sich für Pauschalurlauber:innen durch die Kursverluste der Lira, wenn überhaupt, nur unwesentlich. Ein Großteil der Abwertung wird durch die hohe Inflation wieder aufgefressen.

Dennoch gehört die Türkei zu den günstigsten Reisezielen in Europa. Das zeigt eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes. Die Studie vergleicht das Preisniveau für Gaststätten- und Hoteldienstleistungen in 26 europäischen Urlaubsländern mit den Preisen in Deutschland. Danach ist das Preisniveau in der Türkei um fast 56 Prozent niedriger als in Deutschland. Noch etwas billiger, nämlich 0,5 Prozentpunkte, ist in Europa nur Albanien. Zum Vergleich: In Griechenland, das bei Urlauber:innen aus den deutschsprachigen Ländern ebenfalls sehr beliebt ist, liegt das Preisniveau nur 21 Prozent unter dem Deutschlands, in Spanien beträgt die Differenz 17 Prozent. Teuerstes Urlaubsland für Deutsche in Europa ist die Schweiz. Hier muss man in Hotels und Restaurant 61 Prozent mehr zahlen. In Österreich sind es 15 Prozent mehr.

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Recep Tayyip Erdogan mit Finanzproblemen: Türkei verdreifacht Sprit-Steuern

Wer in der Türkei Diesel oder Benzin tanken will, muss ab sofort rund 20 Prozent mehr zahlen. Grund ist eine massive Steuererhöhung – mit der die Regierung Haushaltslöcher stopfen muss.

Recep Tayyip Erdogan mit Finanzproblemen: Türkei verdreifacht Sprit-Steuern

Recep Tayyip Erdogan mit Finanzproblemen: Türkei verdreifacht Sprit-Steuern© Kacper Pempel / REUTERS

Benzin und Diesel werden in der Türkei deutlich teurer – und das könnte auch Einfluss auf die ohnehin bereits horrende Inflation in dem Land haben. Die Regierung hat am Sonntag die Steuern auf Treibstoffe erheblich erhöht, das meldet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Hintergrund ist offenbar die angespannte Lage des türkischen Haushalts. Dieser war seit Jahresbeginn erheblich in die roten Zahlen geraten.

Das lag teils an dem verheerenden Erdbeben im Frühjahr, teils aber auch an großzügigen Ausgabenprogrammen rund um die Präsidentschaftswahl im Mai. In den ersten fünf Monaten des Jahres stieg das Staatsdefizit deshalb auf 264 Milliarden Lira an – umgerechnet sind das etwa zehn Milliarden Dollar. Im Vorjahr hatte das Minus mit 125 Milliarden Lira nur halb so hoch gelegen.

Sprit wird 20 Prozent teurer

Zur Stärkung der Finanzlage des Staates wurden deshalb nun die für einen Liter Benzin fälligen Steuersätze von 2,52 Lira – umgerechnet etwa 0,10 Dollar – auf 7,52 Lira verdreifacht. Beim Diesel fällt die Erhöhung noch größer aus, pro Liter werden dort nun sieben Lira Steuer fällig, nach bislang 2,05 Lira. Experten rechnen damit, dass in der Folge der Literpreis an türkischen Tankstellen um rund sechs Lira steigen wird. Das würde einem Plus von 20 Prozent pro Liter entsprechen.

Der von Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach der Wahl eingesetzte erfahrene Finanzminister Mehmet Şimşek müht sich darum, die schwere Währungs- und Wirtschaftskrise in der Türkei in den Griff zu bekommen, unter anderem mit Steuererhöhungen. Auch die Mehrwertsteuer wurde angehoben, um zwei Prozentpunkte.

Die Maßnahmen bergen allerdings das Risiko, die ohnehin hohe Inflation in der Türkei anzuheizen. Die Preissteigerungen wurden von der staatlichen Statistikbehörde zuletzt mit 38 Prozent angegeben. Allerdings gibt es Zweifel an dem Wert. Das Forscherkonsortium Enag schätzte die Inflation zuletzt auf einen Wert um die 100 Prozent.

Ein anderes Krisensymptom ist der Kursverfall der türkischen Währung Lira. Sie hat seit 2018 gegenüber Dollar und Euro mehr als 80 Prozent ihres Werts verloren. Das hat die Einfuhr vieler Importwaren aus dem Ausland teurer gemacht – und die Inflation befeuert.

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Erdogans „Jahrhundert der Türkei“: Steuererhöhung, hohe Inflation, Währungsverfall

Nach der Türkei-Wahl

Erdogans „Jahrhundert der Türkei“: Steuererhöhung, hohe Inflation, Währungsverfall

Erdogan wollte nach der Türkei-Wahl im Mai ein „Jahrhundert der Türkei“ einläuten. Bislang haben die Menschen aber Preissteigerungen und Währungsverfall bekommen.

Ankara - In seinem Wahlkampf versprach Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Jahrhundert der Türkei. Doch seit der Türkei-Wahl am 14. Mai und der Stichwahl am 28. Mai ist davon nichts zu sehen. Die Menschen leiden unter den massiven Wirtschaftsproblemen in dem Land. Die miese Wirtschaftslage ist auch an den aktuellen Zahlen zu sehen. In den ersten sechs Monaten des Jahres seien landesweit rund 70.000 Kleinbetriebe pleite gegangen. Das sagte die Abgeordnete Müzeyyen Şevkin (CHP) bei einem Besuch von Vertretern von Kleinbetrieben in Pozantı.

Grund seien vor allem täglich steigende Preise sowie gigantische Steuererhöhungen, die die Bürger regelrecht ruiniert, sagt die Abgeordnete. Schuld sei die AKP-Regierung von Präsident Erdogan, schreibt Şevkin auf Twitter/X. „Jeden Tag gibt es eine Erhöhung! Heute haben sie die Preise für 240 Produkte erhöht, darunter Öl, Zucker und Tee. AKP bedeutet Preissteigerung! AKP bedeutet Unterdrückung“!

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält nach einem Treffen mit dem palästinensischen Präsidenten eine gemeinsame Pressekonferenz ab. (Archivfoto)

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält nach einem Treffen mit dem palästinensischen Präsidenten eine gemeinsame Pressekonferenz ab. (Archivfoto)© Adem Altan/AFP

Inflationszahlen in der Türkei bleiben offenbar beschönigt

Auch die anderen Wirtschaftszahlen bestätigen die miese Wirtschaftslage in dem Land. Laut dem staatlichen Statistikinstitut liegt die jährliche Inflation inzwischen bei 47,83 Prozent. Doch die staatlichen Zahlen scheinen beschönigt zu sein. Das unabhängige Wirtschaftsinstitut „Ena Grup“ berechnet dagegen die Inflation mit 122,88 Prozent.

Alleine zwischen Januar und Juli dieses Jahres sei die Inflation um 69,21 Prozent gestiegen, gibt das Institut an. In Zukunft sollten daher die Verbreitung von Falschinformation für alle verboten werden, fordert der Direktor der Ana Gruo, Prof. Veysel Ulusoy: „Das Desinformationsgesetz sollte sowohl für Organisationen (staatlich und privat) als auch für Einzelpersonen gelten“.

Auch der Wirtschaftsexperte Prof. Özgür Demirtas hatte vor hohen Inflationszahlen gewarnt. „Ich habe millionenfach und jahrelang davor gewarnt. Ich hatte gesagt, dass das passieren wird. Aber niemand hat zugehört“, schrieb der Wissenschaftler vergangenen Monat auf Twitter/X. Die Regierung habe keinerlei Anstrengungen zur Bekämpfung der Inflation unternommen.

Erdogan hatte in seinem neuen Kabinett den ehemaligen US-Banker Mehmet Simsek als Finanzminister ernannt. Auch die Zentralbank wurde mit Hafize Gaye Erkan mit einer US-Bankerin besetzt. Einen Abwärtstrend in der Wirtschaft und auch den Währungsverfall konnte das neue Team bislang jedoch nicht verhindern. Während der US-Dollar 27 Türkische Lira (TL) kostet, liegt der Europreis bei 29,65 TL. Ein Jahr zuvor kosteten die Auslandswährungen noch jeweils 17,93 TL und 18,23 TL.

Erdogan will Abwärtstrend in der Türkei beenden

Offenbar glaubt auch der türkische Präsident nicht mehr an ein Jahrhundert der Türkei, das nach den Wahlen eingeläutet werden sollte. „İnşallah werden wir am 31. März 2024 dieser Negativentwicklung Stopp sagen“, sagte Erdogan bei einer Rede vor seiner Fraktion mit Blick auch auf die Kommunalwahlen an dem Termin.

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Inflation: Türkische Zentralbank hebt Leitzins auf 35 Prozent

Die Währungshüter deuteten für die kommenden Sitzungen weitere Straffungen an. Die Kaufkraft in der Türkei hat in den vergangenen Jahren stark nachgelassen.

Im Kampf gegen die galoppierende Inflation schraubt die türkische Zentralbank den Leitzins weiter kräftig in die Höhe. Die Währungshüter erhöhten den Schlüsselsatz von 30,0 auf 35,0 Prozent, wie die Notenbank am Donnerstag mitteilte.

Das ist bereits der fünfte Schritt nach oben, seit mit dem Amtsantritt der neuen Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan im Juni ein Schwenk Richtung straffer Geldpolitik vollzogen wurde. Experten hatten mit der Zinserhöhung in diesem Umfang gerechnet. Die Währungshüter signalisierten zugleich weitere Straffungsschritte, bis sich der Inflationsausblick nachhaltig aufhelle.

Die Teuerungsrate war im September auf 61,5 Prozent gestiegen. Damit schwindet die Kaufkraft der Bürger rapide, zudem werden in Devisen abgerechnete Importe wie etwa Erdöl immer teurer. Die Landeswährung Lira hat dieses Jahr bereits rund 30 Prozent an Außenwert eingebüßt. Die Notenbank hat ein Inflationsziel von 5 Prozent, das sie als ideal für die Wirtschaft ansieht.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte nach seiner Wiederwahl die ehemalige Wall-Street-Bankerin Erkan zur Zentralbankchefin ernannt. Diese richtete die Geldpolitik neu aus, nachdem zuvor ein der gängigen ökonomischen Lehre zuwiderlaufender Kurs gefahren worden war. So hatte die Zentralbank trotz der extrem hohen Inflation die Zinsen gesenkt, anstatt sie im Kampf gegen die Teuerung anzuheben.

Dies entsprach der Linie des einflussreichen Präsidenten Erdogan, der sich selbst als „Zinsfeind“ bezeichnet und mit billigem Geld die Wirtschaft anschieben wollte. Als Folge wertete die Landeswährung Lira jedoch drastisch ab, was wiederum das Inflationsproblem verschärfte.

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Türkei

100 Jahre Staatsgründung: „Es gibt keine Hoffnung für die Türkei“

Politologe Cengiz Aktar über Recep Tayyip Erdogans Illusionen, den fehlenden Gesellschaftsvertrag der Türkei und die goldenen Jahre der Republik.

Herr Aktar, wer zum ersten Mal die Türkei besucht, staunt oft über die moderne Infrastruktur: erstklassige Autobahnen, schnelle Züge, schöne Flughäfen, gutes Internet. Wie sieht die Bilanz von 100 Jahren Republik Türkei aus?

Dazu hilft ein Vergleich, am besten mit Südkorea. Im Jahr 1950 war Südkorea wie die Türkei ein unterentwickeltes Land. Es hatte gerade einen Krieg hinter sich und war geteilt. Heute ist Südkorea ein wirklich entwickeltes Land. Zwar ist die heutige Türkei nicht mehr die Türkei der 1950er Jahre, aber sie ist trotz Autobahnen weiterhin ein Entwicklungsland mit enormen Problemen in jedem einzelnen Segment des sozialen, politischen und ökonomischen Lebens. Die Industrie ist zweitklassig, weil sie auf Importen beruht. Die Wertschöpfung der türkischen Exporte liegt bei drei oder vier Prozent – das ist nichts im Vergleich mit Ländern wie Deutschland, nicht mal Griechenland. Die Landwirtschaft ist zerstört, der soziale Zusammenhalt ist zerrüttet. Das kurdische Problem ist ungelöst. Außenpolitisch gibt es Probleme mit fast allen Nachbarn.

Die 85-jährige Mukkades Kokeralp Cirak zeigt vor ihrem Haus im westtürkischen Edirne unmissverständlich, wie sehr sie Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bewundert.

Die 85-jährige Mukkades Kokeralp Cirak zeigt vor ihrem Haus im westtürkischen Edirne unmissverständlich, wie sehr sie Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bewundert.© Ozan Kose/afp

Was ist denn schiefgelaufen?

Die Schuld für vieles, aber bei Weitem nicht alles, trägt der politische Islam, also das AKP-Regime von Recep Tayyip Erdogan. Die meisten Probleme sind älter. Auf der anderen Seite ist die Türkei kein Land, das wie Südkorea nach einem langfristigen Plan entwickelt wurde. Ein Hauptproblem ist, dass es in der Türkei keinen Gesellschaftsvertrag gibt, kein ziviles Gefühl für die Gesellschaft. Die Türkei besteht vielmehr aus verschiedenen Gruppen, die alle miteinander verfeindet sind und in ihren jeweiligen Hochburgen für sich leben: die Säkularen, die konservativ-sunnitischen Türken, die Aleviten, die Kurden usw. Und diese Gruppen haben untereinander wenig Berührungspunkte.

Gehen diese Probleme schon auf die Republikgründung zurück?

So ist es. Die Türkei hat mit den Völkermorden und Pogromen an Armeniern, Griechen und anderen nichtmuslimischen Minderheiten vor über hundert Jahren ihr Bürgertum zerstört. Man kann eine Bourgeoisie aber nicht auf Knopfdruck neu erfinden, wie es dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk vorschwebte. Wer hat Europa nach 1945 gerettet und wiederaufgebaut? Zum Einen die Linke, aber eben auch das antifaschistische Bürgertum. So etwas hat es in der Türkei nie gegeben. Die sogenannte muslimische türkische Bourgeoisie, die nach 1923 aus dem Nichts geschaffen wurde, war natürlich ein gehorsamer Diener des Staates.

Auf der anderen Seite hat sich aber eine solide Mittelschicht entwickelt, vor allem im Westen der Türkei. Garantiert sie nicht eine Art von gesellschaftlicher Stabilität, demokratischer Teilhabe und Fortschritt?

Die säkulare Mittelschicht sorgte für eine relative Stabilität, aber sie ist in den letzten zehn Jahren vom Erdogan-Regime wirtschaftlich und politisch zerstört worden. Die besten Elemente der türkischen Gesellschaft, vor allem die Jugend, verlassen gerade das Land. Das ist ein riesiger Brain-Drain. Schauen Sie sich den Iran an. Seit der Revolution von 1979 ist der Iran unfähig zu echter Entwicklung, weil seine komplette Intelligenz geflüchtet ist. Das Gleiche geschieht derzeit in der Türkei. Sie ist kein Land mehr, in dem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie funktionieren, sondern ein totalitäres Willkürregime.

Erdogan misst sich ständig an Atatürk

Atatürk hatte zwar keinen demokratischen Rechtsstaat geschaffen, aber Säkularismus, Republikanismus und soziale Reformen gefördert. Und Erdogan ist sicher der bedeutendste politische Anführer der Türkei seit Atatürk. Was hat er aus dem kemalistischen Erbe gemacht?

Es zeigte sich, dass die kemalistischen Institutionen extrem fragil waren, als der politische Islam seit 2013 begann, sie zu attackieren. Da es an Checks and Balances ebenso mangelte wie an einer demokratischen Kultur, fehlte die institutionelle Widerstandskraft. Der stärkste Beweis für die Fehlkonstruktion des Systems waren die wiederholten Militärputsche, wenn das Chaos zu extrem wurde. Jetzt liegt alles am Boden: die Wirtschaft, die Verwaltung, die Armee, die Universitäten, die Diplomatie, die Justiz, die Medien. Dafür reichte ein kleiner Stoß.

Liegt der Fehler also im System? Auch Atatürk war ja ein Autokrat. Das 1950 eingeführte Mehrparteiensystem existierte stets nur kurze Zeit, bis das Militär wieder einmal putschte. Ist Erdogan eine Art islamistische Version des Republikgründers?

Natürlich. Es gibt zweifellos viele Ähnlichkeiten zwischen beiden in der autokratischen Art zu regieren. Der wichtigste Unterschied ist, dass Atatürk völlig verwestlicht und säkular war und an die Bedeutung der Wissenschaft, der Frauen und der Moderne glaubte. Eines ist dem Kemalismus allerdings gelungen: den Säkularismus in der Gesellschaft zu verankern. Die Türkei wird nie zu einem islamistischen Land wie etwa Gaza werden. Aber viele Werte des Säkularismus sind zerstört oder stark bedroht. Die am meisten von der Islamisierung gefährdete Gruppe sind zweifellos die Frauen, deren Rechte massiv beschnitten werden.

Erdogan misst sich ständig an Atatürk und versucht, dessen säkulare Politik zu konterkarieren, etwa durch die Wiederumwidmung des Hagia-Sophia-Museums zur Moschee. Glauben Sie, dass er ihn als türkischer Anführer in den Geschichtsbüchern überstrahlen wird?

Das ist einer der Gründe, warum er die Präsidentschaftswahlen im Mai nicht verlieren durfte. Erdogan wollte unbedingt am 100. Jahrestag, dem 29. Oktober 2023, weiterhin Präsident sein. Das ist eine Art Lebensziel für ihn und für die islamistische Ideologie, die er vertritt. Er glaubt, dass er Atatürk als größten Helden und Staatsmann der Türkei ablösen und übertreffen wird. Aber das ist eine Illusion.

Im Vertrag von Lausanne, dem Gründungsdokument der türkischen Republik, wurden Völkermord, Pogrome und Vertreibungen ethnischer Minderheiten nicht thematisiert – eine Voraussetzung der türkischen Nationalisierungspolitik Atatürks. Sie sprechen in Ihrem Buch „Die türkische Malaise“ vom „Grundübel des türkischen Nationalismus“. Gibt es eine Chance, die Verbrechen der Vergangenheit, wie den Völkermord an den Armeniern, aufzuarbeiten?

Nein. Das gesamte türkische Gemeinwesen wurde auf der Grundlage dieser blutigen ethnischen Säuberungen aufgebaut, die drei Millionen nicht-muslimische Bürger vollständig auslöschten, ein Fünftel der Bevölkerung. Wäre Deutschland jetzt ein normales Land, wenn es sich nicht mit den Verbrechen des Dritten Reichs auseinandergesetzt hätte? Natürlich nicht! Das ist der große Unterschied. Die Türkei wollte nie Rechenschaft ablegen und wurde weder von den Unterzeichnerstaaten des Lausanner Vertrages noch von ihren Partnern nach 1923 jemals zur Verantwortung gezogen. Das ist einer der Gründe, warum das türkische Gemeinwesen in den letzten 100 Jahren nie zu einer gesunden, friedlichen Verfasstheit fand.

Hauptproblem der Türkei: „Es gibt keinen Gesellschaftsvertrag“

Es gab auch schwere Verbrechen an der muslimischen Bevölkerung. Was bedeuten 100 Jahre türkische Republik für Aleviten, Kurden und andere ethnische und religiöse Minderheiten?

Es gibt keinen Gesellschaftsvertrag in der Türkei, keine gesellschaftlich anerkannte gleiche Staatsbürgerschaft. Das ist das Hauptproblem. Es gibt nach wie vor Bürger erster, zweiter, dritter Klasse und so weiter. Die erste Klasse sind die sunnitischen Türken – übrigens auch die frommen Anatolier, Erdogans Wählerschaft -, und dann gibt es den Rest. Diesen latenten Faschismus kann ein Gemeinwesen auf Dauer nicht überleben.

Atatürks außenpolitischer Grundsatz war: Frieden zu Hause, Frieden in der Welt. Erdogan hat damit gebrochen. Warum?

Wir haben es mit einer kompletten Doppelzüngigkeit des Erdogan-Regimes zu tun. Auf der einen Seite gibt es vor, Teil der Nato zu sein und auf der anderen Seite kollaboriert es buchstäblich mit allen Feinden des Westens: mit der Hamas, mit dem Islamischen Staat und anderen islamistischen Gruppen in Syrien, mit Russland, mit China. Das war vor 2011 undenkbar. Es gibt heute viele Analysten, die die Nachhaltigkeit der türkischen Präsenz innerhalb des westlichen Bündnisses in Frage stellen.

Cengiz Aktar (68) ist türkischer Publizist, Politologie-Professor an der Universität Athen und hat lange für die UN gearbeitet. Er analysiert seit Jahren die Lage in der Türkei, zuletzt in seinem Buch „Die türkische Malaise“, erschienen im Kolchis Verlag. fno Bild: Frank Nordhausen.

Cengiz Aktar (68) ist türkischer Publizist, Politologie-Professor an der Universität Athen und hat lange für die UN gearbeitet. Er analysiert seit Jahren die Lage in der Türkei, zuletzt in seinem Buch „Die türkische Malaise“, erschienen im Kolchis Verlag. fno Bild: Frank Nordhausen.© Bereitgestellt von FR

Was bedeutet der Bellizismus des Erdogan-Regimes für die türkische Gesellschaft?

Genau wie im Dritten Reich sind die türkischen Massen als solche Träger dieser totalitären Impulse. Das ist für den Westen jedoch extrem schwer zu verstehen.

Wie kam es dazu? Als Erdogan 2002 sein Amt antrat, setzte er bahnbrechende demokratische Reformen um. Er begann sogar, mit historischen Tabus aufzuräumen, etwa in Bezug auf Armenier und Kurden.

Das war ein Verdienst der EU. Es waren die goldenen Jahre der türkischen Republik, die 2011 endeten, großartige Jahre. Der politische Islam war die treibende Kraft, aber zusammen mit liberalen Teilen der türkischen Gesellschaft, die für einen radikalen Wandel eintraten. Es war eine historische Chance, die durch Fehler, Misstrauen und Missverständnisse zwischen Europa und der Türkei komplett vergeigt wurde. Beide Seiten sind für dieses Fiasko verantwortlich.

Erdogan von Anfang an Populist und kein Demokrat – wie der Präsident zum Autokraten wurde

Kann das erklären, warum Erdogan zum Autokraten wurde?

Er war von Anfang an ein Populist und kein Demokrat. Aber er hat die Regeln des Spiels akzeptiert. Erdogan und sein Team haben es mitgespielt bis zu dem Tag, an dem sie merkten, dass es für die Türkei nicht gut läuft. Und dann gab es 2013 noch eine andere bedeutende Entwicklung.

Die Gezi-Proteste gegen Erdogan.

Sie brachten Erdogan völlig um den Verstand. Die Gezi-Proteste und zwei andere Ereignisse im selben Jahr veranlassten ihn, auf seine antidemokratische Denkweise zurückzukommen: der Sturz seines Muslimbruder-Protegés Mohammed Mursi in Ägypten und die Enthüllungen über massive Bestechung und Korruption, die direkt Erdogans Familie und seine Minister betrafen.

Zum Jubiläum hat Erdogan seinen Landsleuten ein „türkisches Jahrhundert“ versprochen, sowie die Türkei in die Gruppe der zehn größten Wirtschaftsnationen zu bringen. Davon ist man meilenweit entfernt. Welche Funktion hat dieses Narrativ?

Das ist reine Propaganda, die die unwissenden Massen glücklich macht. In Wahrheit ist es ein faktenbefreites Hirngespinst. Nichts entspricht irgendeiner Realität. Im Gegenteil, die Türkei ist im 100. Jahr ihrer Republik ein kränkelndes Gemeinwesen in einem kranken Staat. Mit paranoiden Menschen, einem enormen Brain-Drain, mit Kriegen im Irak und in Syrien und dem Versuch, mit den Geldern zu überleben, die die arabischen Verbündeten zur Verfügung stellen.

Was müsste passieren für eine Rückkehr zur Demokratie?

Es gibt keine Hoffnung für die Türkei. Die Grundlagen zur möglichen Gesundung und der Rechtstaatlichkeit sind ausgelöscht. Die heutige Türkei untersteht einem totalitären Regime. Um ein normales Land zu werden, bräuchte die Türkei so etwas wie die Entnazifizierung in Deutschland nach 1945. Davon ist sie weit entfernt.

Zitat

Hassreden an Türken in aller Welt: So bedroht Erdoğan den Frieden in Deutschland

Deutschland hat noch nicht einmal begonnen, die Konfliktpotenziale einer Einwanderungsgesellschaft ernst zu nehmen und Schulen und Alltag darauf vorzubereiten.

Mit Palästinenserschal: der türkische Präsident Erdoğan.

Mit Palästinenserschal: der türkische Präsident Erdoğan.© Foto: IMAGO/ABACAPRESS/IMAGO/Depo Photos/ABACA

Mit dem Entsetzen über die Gewalt in Israel und Gaza wächst die Angst hier in Deutschland. Der Konflikt wird auch auf Straßen und Plätzen in Berlin und in anderen Städten ausgetragen.

Vieles deutet darauf hin, dass die Spaltung viel tiefer geht und der innere Frieden weit stärker bedroht ist, als bisher sichtbar wird. Das stellt Gesellschaft und Politik vor Herausforderungen, auf die sie nicht vorbereitet sind.

Nun schürt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Empörung mit Auftritten, die sich auch an die Türken im Ausland richten. Er gefährdet das gute Miteinander von Alteingesessenen und Zugewanderten. Man möchte inständig hoffen, dass es ihm nicht so einfach gelingt, die Herzen zu vergiften. Und muss es doch zugleich befürchten.

Mehr Türken als Palästinenser in Deutschland

Die Bilder von den empörten Protesten in Neukölln oder vor dem Brandenburger Tor, bei denen manche die Vernichtung Israels fordern, sind nur die Oberfläche. Was sich in vielen hunderttausend Familien mit Migrationshintergrund, in Klassenzimmern, auf Schulhöfen und in Moscheen abspielt, beginnt erst ins allgemeine Bewusstsein zu sickern.

Bisher hat sich die Furcht vor einer Eskalation hier in Deutschland auf arabische Zuwanderer, etwa aus Palästina, dem Libanon und Syrien, konzentriert, eine zahlenmäßig überschaubare Gruppe. Von ganz anderer Dimension ist der Anteil der Menschen mit Wurzeln in der Türkei. Es sind rund drei Millionen, die Hälfte hat die türkische Staatsangehörigkeit.

Erdoğan hat beträchtlichen Einfluss auf sie. Rund zwei Drittel derer, die sich von Deutschland aus an türkischen Wahlen beteiligen, haben für ihn gestimmt.

Erdoğan nutzt seinen Einfluss, um zu hetzen. Er erreicht den Großteil der Türkischstämmigen, die sich über türkische Sender informieren und über Moscheen ihr politisches Urteil bilden. Ob Erdoğan vor Millionen eine Rede zur Lage im Gazastreifen hält oder seine Religionsbehörde Musterpredigten für Moscheen auch in Deutschland vorgibt: Überall tauchen dieselben Versatzstücke auf.

Israel ist „der Kriegsverbrecher“. Israel ist „ein rostiger Dolch im Herzen der islamischen Geografie“. Weil der Westen Israel unterstütze, sei er „der Hauptschuldige an den Massakern im Gazastreifen“. Die israelischen Opfer des Terrorangriffs der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung erwähnt Erdoğan nicht.

Erdoğan: Angriff auf Gaza ist wie Holocaust

Erdoğan zieht eine direkte Linie vom Völkermord an den Juden zu den heutigen Opfern im Gazastreifen. „Gestern noch haben sie Juden in Gaskammern getötet“, heute sei „die gleiche Mentalität in Gaza“ am Werk. Der Westen schaffe eine „Kreuzzugs-Atmosphäre“ gegen Muslime.

Unter dem Eindruck dieser Hetze gehen Hunderttausende Erwachsene mit Verbindungen in die Türkei in diesen Tagen zu ihren Arbeitsplätzen in Deutschland. Und kommen ihre Kinder in Schulen und treffen dort auf andere Kinder aus jüdischen Familien oder aus deutschen Familien, die zuhause über ihr Mitgefühl mit den angegriffenen Israelis sprechen. Man kann nur ahnen, welche seelischen Konflikte das auslöst. Und welches Eskalationspotenzial sich da bilden kann.

Kann Kanzler Scholz Erdoğan ausladen?

Wer kann Abhilfe schaffen und wie, um den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten – kurzfristig, aber auch mit strategischem Weitblick? Die Bundesregierung steht vor einer schwierigen Abwägung: Kann sie an dem für Mitte November geplanten Besuch Erdoğans unter diesen Umständen festhalten? Wie will sie verhindern, dass er auf einer propalästinensischen Demonstration hier Brandreden hält wie daheim? Doch die Türkei ist zugleich ein unverzichtbarer Nato-Partner.

Deutschland hat noch nicht einmal begonnen, sein Bildungssystem auf die Anforderungen und Konfliktpotenziale einer Einwanderungsgesellschaft umzustellen. Wer steht bereit, um Lehrerinnen und Lehrer in Schulen mit hohem Migrationsanteil zu unterstützen? Sie können im Unterricht, aber auch in den Pausen auf den Schulhöfen in Situationen geraten, für die sie niemand ausgebildet hat.

Inwieweit darf und muss staatliche Aufsicht in Predigten und Moscheevereine eingreifen? Wo verläuft die Grenze zwischen Religions- und Meinungsfreiheit einerseits sowie dem Verbot des Aufrufs zum Völkerhass andererseits? Kann man Sendern, die Hass verbreiten, die Lizenz für Deutschland entziehen?

Welche besänftigende Rolle können moderate türkische und deutsch-türkische Vereinigungen spielen? Und wie viel Bekenntnis zu Toleranz und friedlichem Zusammenleben darf man von Menschen erwarten, die unter beträchtlichem Druck zur Solidarität mit einer extremer denkenden Umgebung stehen?

Die irreführende statistische Erfassung antisemitischer Straftaten muss endlich reformiert werden. Sie verzeichnet Vorfälle, deren Urheber nicht zweifelsfrei geklärt sind, als Taten der (deutschen) politischen Rechten – auch dann, wenn Zeugenaussagen und andere Umstände auf Täter mit Migrationshintergrund hinweisen. Dies wurde bereits in früheren Gaza-Kriegen moniert, aber bis heute nicht geändert.

Deutschland braucht und möchte Zuwanderung. Aber es muss sich eingestehen, dass sie zu Zumutungen und Problemen führen kann. Rationale Antworten können Politik und Gesellschaft nur finden, wenn sie das Ausmaß der Herausforderung erkennen. Die ist durch Erdoğans Hassreden nochmals gewachsen.